Wer ein Medizinstudium abschliesst und danach nur in Teilzeit arbeitet, soll etwas zurückzahlen. Und auch wer bald aussteigt und nicht als Ärztin oder Arzt arbeitet, ist der Gesellschaft etwas schuldig. Mit dieser Forderung haben sich zwei bekannte Mediziner an die Medien gewandt; sowohl
«Neue Zürcher Zeitung» als auch
«Tages-Anzeiger» diskutieren ihre Thesen heute ausführlich.
Konkret stellen der Pneumologe
Erich W. Russi und der Internist
Johann Steurer die «bedingungslose Subventionierung» der Mediziner in Frage. Wenn ein früher Ausstieg aus dem Arztberuf oder wenn eine Teilzeittätigkeit «ohne gewichtige Begründung» finanzielle Folgen hätte, dann wäre dies ein stärkerer Hebel gegen den Ärztemangel als ein Ausbau der Studienplätze.
Erich W. Russi war einst Direktor der Klinik für Pneumologie am USZ und Studiendekan an der Zürcher Medizinfakultät; Johann Steurer ist emeritierter Professor für Innere Medizin am Universitätsspital. «Seit meiner Zeit als Studiendekan baut man die Plätze aus, die Not gelindert hat das nicht», sagt Erich Russi in der NZZ.
«Die zunehmende Gewohnheit, Beruf und Privatleben beliebig aufzuteilen, darf in der Medizin nicht als reine Privatsache betrachtet werden.»
Und: «Der Schweiz fehlt es nicht an ausgebildeten Ärztinnen und Ärzten», so Johann Steurer im «Tages-Anzeiger». Im Gegenteil: Die Zahl der Ärzte stieg in den letzten zehn Jahren doppelt so steil wie die Bevölkerungszahl. Warum also der Ärztemangel?
Mehr Studienplätze wären jedenfalls kaum die Lösung, so der Folgegedanke von Steurer und Russi. Damit schaffe man nur einen Flaschenhals anderswo, zumal die Anzahl der Weiterbildungsstellen in Zukunft angesichts von Spitalschliessungen eher sinkt als steigt. Das «Engpass-Problem» ist bekanntlich heute schon spürbar. Zum Beispiel benötigten Chirurgen einst 1’000 Eingriffe für den Facharzt-Titel, heute reichen 350, und da werden noch Teileingriffe gezählt – denn die ursprünglichen Zahlen sind kaum noch erreichbar.
Russi und Steurer ist bewusst, dass ihr Appell dem Zeitgeist widerspricht: Denn dass auch Ärzte ein Recht auf genügend eigene Zeit haben, wird allgemein kaum noch bestritten. Und klar scheint auch, dass Frauen ein entscheidender Faktor sind, um künftig die Versorgung zu sichern – und sie fordern mehr Teilzeitmöglichkeiten.
Aber: «Die zunehmende Gewohnheit, Beruf und Privatleben beliebig aufzuteilen, darf in der Medizin nicht als reine Privatsache betrachtet werden», sagt Erich W. Russi: Die Gesellschaft investiere mehr in die Ausbildung von Ärztinnen und Ärzten als in anderen Studienrichtungen.
«Es ist ja gut und recht, wenn jemand nach dem Medizinstudium Unternehmensberater wird, aber das sollte gewisse Konsequenzen haben.»
«Es ist doch nicht richtig, wenn Menschen, die eine sehr teure Ausbildung erhalten, nachher 60 Prozent und weniger arbeiten, nur um eine gute Work-Life-Balance zu haben», sagt Johann Steurer. Obendrein würden zu viele den Beruf gar nie antreten. «Es ist ja gut und recht, wenn jemand nach dem Medizinstudium Unternehmensberater wird, aber das sollte gewisse Konsequenzen haben.»
Dem widerspricht VSAO-Vorstandsmitglied Nelly Blindenbacher: «Das gibt es so auch in keinem anderen Studium in der Schweiz», sagte sie im «Tages-Anzeiger». Eine Rückzahlungspflicht zur Bekämpfung des Fachkräftemangels sei unverhältnismässig. Heute laufe die Identifikation mit dem Beruf nicht mehr über die Arbeitszeit, so VSAO-Vertreterin Blindenbacher, und dies werde in allen Branchen akzeptiert – nur in der Medizin nicht.
Tobias Burkhardt, der Präsident der Zürcher Ärztegesellschaft hält die Vorschläge von Russi und Steurer zumindest für prüfenswert: Aber gerade wenn man einen Malus einführen wolle, müsse man sehr differenziert vorgehen, so Burkhardt in der NZZ. Grundsätzlich schwebt ihm eher das Zuckerbrot als die Peitsche vor: «Wir müssen uns fragen, wie wir den Beruf attraktiver machen und hohe Pensen ermöglichen.»
Im Hintergrund steht, dass das
Arbeitspensum der Mediziner tendenziell stetig sinkt. Laut der
Ärztestatistik der FMH betrug das durchschnittliche Arbeitspensum im Jahr 2014 noch 8,9 Halbtage. Zehn Jahre später, 2024, arbeiteten Ärztinnen und Ärzte im Schnitt 8,6 Halbtage pro Woche. (Allerdings liegt das Vollzeitäquivalent hier im Schnitt bei 50 Stunden pro Woche – ein sehr hoher Wert.)
Im Praxissektor liegt das durchschnittliche Arbeitspensum mit 7,9 Halbtagen pro Woche um 1,5 Halbtage tiefer als im Spitalsektor (9,4 Halbtage). Das durchschnittliche Arbeitspensum von Frauen beträgt 7,6 Halbtage, bei den Männern sind es 9,0 Halbtage.
Die Folge der Entwicklung: Heute haben 41 Prozent der in der Schweiz berufstätigen Ärztinnen und Ärzte ihr Medizinstudium im Ausland absolviert. Zehn Jahre davor, 2014, waren es noch 31 Prozent gewesen. Die Schweiz liegt hier weit über dem OECD-Durchschnitt von 19 Prozent.