Raus aus der Chirurgie, rein in die Privatwirtschaft

«Aufwand und Ertrag stimmen in der Chirurgie nicht», sagt der ehemalige Chirurg Mathias Siegfried. Er zog die Reissleine und wechselte in die Privatwirtschaft.

, 6. Oktober 2025 um 08:01
letzte Aktualisierung: 21. November 2025 um 13:58
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Bild: zvg
Herr Siegfried, Sie haben nach sechs Jahren chirurgischer Ausbildung die Reissleine gezogen – gerade in einer Phase, in der Ihre Karriere hätte durchstarten können. Was hat Sie zu diesem Schritt bewogen?
Ich habe mich ehrlich gefragt: Will ich das wirklich weitere zehn Jahre durchziehen? Die Realität war, dass ich nach sechs Jahren chirurgischer Ausbildung noch immer am Anfang stand. Ein Freund von mir war im Consulting, hat dort in derselben Zeit Vollgas gegeben – und konnte sich danach seine Position aussuchen. In der Chirurgie ist es genau umgekehrt: Enormer Einsatz, aber es dauert lange, bis man die «Früchte des Erfolgs» ernten kann. Für mich passte dieses Missverhältnis zwischen erbrachter Leistung und Ertrag nicht – auch finanziell.
«Die Operationen sollten denen vorbehalten sein, die langfristig Chirurgen werden wollen.»
Dann war es also nicht die hohe Arbeitsbelastung?
Nein, das war es nicht. 80-Stunden-Wochen gibt es auch in der Privatwirtschaft, auch dort arbeitet man an der Grenze. Entscheidend war für mich nicht die Menge der Arbeit, sondern die Strukturen: Endlose Bereitschaftsdienste, administrative Leerläufe, fehlende Planbarkeit und eine Ausbildung, die viel zu wenig systematisch verläuft. Am Ende stellt sich die Frage: Erfüllt mich meine Arbeit? Für mich war die Antwort klar Nein.
Mathias Siegfried ist Facharzt für Chirurgie und Gründer des Medizinunternehmens AcciMed. Das Unternehmen ist auf die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit, die Erstellung von Arztzeugnissen und die Wiedereingliederung von Mitarbeitenden spezialisiert.

Sie sagen, es sei nicht die Arbeit an sich, sondern das System. Wo sehen Sie die grössten Defizite?
Ganz klar in der Ausbildung. Als Chirurg will man operieren. Wer im Schnitt nur eine Stunde am Tag im OP steht, wird kein guter Chirurg. In der Schweiz fehlt ein klares Curriculum. Viel hängt vom Goodwill des Ausbildners ab und vom Zufall, in welchem Spital man landet. In den USA ist das anders: Dort ist genau definiert, wie viele Blinddärme oder Gallenblasenoperationen ein Assistenzarzt pro Jahr durchführen muss. Jeder Fortschritt wird erfasst, und es ist sichergestellt, dass man tatsächlich operieren lernt. Dieses System fehlt uns hier.
Liegt das Problem auch darin, dass in der Schweiz zu viele Chirurgen ausgebildet werden?
Absolut. In vielen Spitälern gibt es zu viele Assistenzärzte für zu wenige Fälle. Die Fallzahlen stimmen einfach nicht. Trotzdem wird kaum selektioniert. Dabei müsste man viel strenger unterscheiden: Wer will wirklich Chirurgie machen, wer ist bereit, die Extra-Meile zu gehen? Die OPs sollten denen vorbehalten sein, die langfristig Chirurgen werden wollen. Heute wird die Ressource Arzt oft verschwendet.
Wie sähe Ihr ideales Ausbildungssystem aus?
Es braucht ein verbindliches Curriculum und eine viel bessere Steuerung der Ausbildung. Ich stelle mir ein Rotationsmodell vor: Spital A macht montags und dienstags Gallenblasen, Spital B mittwochs und donnerstags Hernien – und die Assistenzärzte rotieren dorthin, wo es die entsprechenden Eingriffe gibt. So könnte man gezielt Kompetenzen aufbauen. Gleichzeitig muss man die administrativen Aufgaben massiv reduzieren. Heute verbringen Ärzte viel zu viel Zeit mit Papierkram, obwohl wir längst die technischen Möglichkeiten hätten, vieles zu automatisieren.
Glauben Sie, dass ein System wie in den USA in der Schweiz realistisch umsetzbar wäre?
Theoretisch ja, aber nur, wenn nicht mehr jedes Spital die Ausbildung selbstständig organisiert. Es bräuchte eine Organisation, die die Ausbildung interregional strukturiert.
Welche Reaktionen haben Sie auf Ihren Ausstieg bekommen?
Das Echo war heftig. Ein ehemaliger Chefarzt hat sogar den Kontakt abgebrochen. Viele sagten: «Wie kannst du das einfach aufgeben? Du hast so viel investiert!» Vor allem aus den oberen Hierarchiestufen kam Unverständnis. Aber von Kollegen in meinem Alter habe ich viel Zuspruch erhalten. Viele denken ähnlich, trauen sich aber nicht, es offen auszusprechen. Von Nicht-Medizinern kamen eher Aussagen wie: «Wir haben doch einen Fachkräftemangel, weshalb gehst du?»
Hätten Sie nicht schon vor dem Studium wissen können, worauf Sie sich einlassen?
Nein. Niemand sagt einem im Studium, wie der Alltag in der Medizin wirklich aussieht. Ich hätte mir viel mehr Austausch mit Assistenz- und Oberärzten gewünscht – über Job, Karriereperspektiven, über die Realität im Gesundheitswesen. Ein Mentoring hat gefehlt.
«Manchmal vermisse ich die Dynamik einer echten Notfallsituation, in der es schnell gehen muss und wirklich etwas auf dem Spiel steht.»
Machen Sie es sich da nicht etwas einfach?
Ich habe damals zu wenig hinterfragt. Dass das System so viele Schwächen hat, wurde mir erst in der Praxis klar. Wenn ich zurückblicke, entschied ich mich – ohne echte Ahnung – für das Medizinstudium.
Sie sind ausgestiegen, haben ein MBA gemacht, sind in die Telemedizin gewechselt und haben Ihr eigenes Business aufgebaut. Vermissen Sie die Klinik?
Nein. Als ich an meinem letzten Tag aus dem Spital hinausging, habe ich mich gefragt: Werde ich das jemals vermissen? Bis heute ist das nicht passiert. Manchmal vermisse ich die Dynamik einer echten Notfallsituation, in der es schnell gehen muss und wirklich etwas auf dem Spiel steht. Aber den Alltag im OP? Nein.
Würden Sie zurückkehren?
Theoretisch schon. Wenn mein Business scheitern würde und ich einen sicheren Job bräuchte, könnte ich mir vorstellen, in die Notfallmedizin oder eine Permanence-Klinik zurückzukehren. Aber ein richtig guter Chirurg werde ich nicht mehr. Dafür müsste ich wieder Jahre investieren – das will ich nicht.
Würden Sie anderen jungen Ärzten von der Chirurgie abraten?
Nein. Aber man muss ehrlich sein: Wer Chirurg wird, sollte Medizin als Berufung verstehen, vielleicht sogar als Hobby. Man muss bereit sein, sehr viel zu geben, ohne sofort etwas zurückzubekommen. Wer sich selbst verwirklichen will, Zeit für sich braucht oder finanziell schneller erfolgreich sein möchte – der sollte sich gut überlegen, ob Chirurgie der richtige Weg ist.
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