Darmkrebsvorsorge: «Weniger ein medizinisches als ein kommunikatives Problem»

Ein bis zwei neue Darmkrebsfälle diagnostiziert der Gastroenterologe Roger Wanner jeden Monat. Die wachsende Regulierungswut beschäftigt ihn zunehmend: «Diese nimmt absurde Züge an», sagt er.

, 31. März 2025 um 07:34
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«Auch in der Sprechstunde nutzen wir KI-gestützte Transkriptionen»: Roger Wanner, Facharzt für Gastroenterologie |  Bild: zvg.
Herr Wanner, Zürich ist einer der letzten Kantone ohne offizielles Darmkrebs-Screening. Ist das besorgniserregend?
Nicht unbedingt. Das Ziel eines Screening-Programms ist es, Darmkrebs zu verhindern. Gemäss dem Versorgungsatlas hat Zürich eine der niedrigsten Darmkrebsraten der Schweiz (Platz 7) und gleichzeitig eine hohe Anzahl an durchgeführten Darmspiegelungen (Platz 4). Was auch immer wir tun, es scheint zu funktionieren. Ich sage oft: Darmkrebsprävention ist weniger ein medizinisches als ein kommunikatives Problem. Man muss darüber sprechen, um Bewusstsein zu schaffen. Viele Menschen fühlen sich mit 50 noch topfit – doch genau dann ist der beste Zeitpunkt für eine Vorsorge-Darmspiegelung.
Braucht es trotzdem organisierte Screening-Programme?
Ich bin skeptisch. In Zürich sind Hausärzte und Gynäkologen sehr aufmerksam und sprechen ihre Patienten aktiv auf die Darmkrebsvorsorge an. Das kann effektiver sein als ein zentrales Register. Am Ende bleibt es eine politische Frage: Wer finanziert das Screening? Und welchen Nutzen kann man der Bevölkerung bieten.
Roger Wanner ist Facharzt für Gastroenterologie FMH sowie Facharzt Allgemeine Innere Medizin FMH & DGVS. Er leitet die Gastroenterologie Zürich AG, die unter anderem als erste Praxis in Europa Künstliche Intelligenz in der Screening-Koloskopie einsetzt.
Darmspiegelungen waren lange ein Tabuthema, doch mittlerweile sprechen viele offen darüber – manche berichten sogar begeistert von ihrer Erfahrung. Woran liegt das?
Das ist eine gute Entwicklung. Darmspiegelungen sollten kein Tabuthema sein. Viele Patienten berichten von der positiven Erfahrung mit dem Narkosemittel Propofol. Es fühlt sich für sie an, als würde das Bewusstsein einfach aus- und wieder angeknipst. Nicht selten höre ich nach dem Aufwachen: «Das war's schon?»
Wie oft entdecken Sie Darmkrebs?
Mein Eindruck ist, dass es weniger geworden ist, aber das ist eher ein Bauchgefühl. Ich sehe etwa ein bis zwei neue Fälle pro Monat. Auffällig ist, dass es zunehmend auch jüngere Menschen betrifft. In den USA wurde das Screeningalter deshalb von 50 auf 45 Jahre gesenkt – und ich halte das nicht für übertrieben.
Parallel dazu zeigen Statistiken, dass die Zahl der Darmkrebserkrankungen bei über 50-Jährigen in der Schweiz leicht zurückgeht – während sie bei jüngeren Menschen steigt. Woran könnte das liegen?
Die genauen Ursachen sind noch unklar, aber Faktoren wie Ernährung, Bewegungsmangel und Umweltfaktoren könnten eine Rolle spielen. Genaue Daten aus der Schweiz wurden noch nicht detailliert analysiert. Deshalb kann sicherlich keine generelle Empfehlung ausgesprochen werden. Es gilt aber weiterhin: bei Alarmsymptomen wie Blut im Stuhl sollte ein Arzt aufgesucht werden.
Was ist das Ziel der Darmkrebsvorsorge?
Das Ziel ist, Polypen frühzeitig zu entdecken und zu entfernen. Polypen sind zwar zunächst gutartig, aber sie können sich zu Krebs entwickeln. In der Schweiz erkranken rund sechs Prozent der Bevölkerung an Darmkrebs: jedes Jahr rund 4'000 Neuerkrankungen.
«Wir haben mittlerweile mehr Prozessvorgaben als medizinische Richtlinien.»
Sie führen täglich bis zu 12 Darmspiegelungen durch – und gleichzeitig werden die Vorschriften, wie Sie Ihre Arbeit zu erledigen haben, immer detaillierter. Wie erleben Sie die zunehmende Regulierung?
Man kann schon fast von einer Regulierungswut sprechen. Die Regulierung lässt einen manchmal fühlen wie ein Schulbub, dem man misstraut. Wir haben mittlerweile mehr Prozessvorgaben als medizinische Richtlinien. Es wird akribisch vorgeschrieben, wie wir unsere Geräte reinigen, lagern und warten müssen – aber kaum jemand fragt, wie gut die Behandlungsergebnisse tatsächlich sind. Dabei müsste es doch heissen: 'Ihr seid verantwortlich, dass Patienten sicher sind und keine Komplikationen erleiden.' Doch stattdessen werden wir bis ins Kleinste überwacht.
Haben Sie ein Beispiel für eine dieser absurden Vorschriften?
Ja, und zwar ein besonders kurioses: Im Wartezimmer bieten wir unseren Patienten ganz normales Hahnenwasser als Trinkwasser an. Doch für die Endoskopie dürfen wir es nicht verwenden, um den Darm zu spülen – dafür brauchen wir jetzt steriles Wasser. Das bedeutet mehr Einwegmaterial, mehr Abfall und deutlich höhere Kosten. Und das ist nur ein Beispiel von vielen. Solche Vorschriften vermitteln uns das Gefühl, dass wir unseren Job nicht gut genug machen – und das ist manchmal frustrierend.
«Arzt ist ein Traumberuf. Für mich ist es ein Privileg, täglich so viele unterschiedliche Menschen kennenlernen zu dürfen.»
Warum haben Sie sich für den Verdauungstrakt als Fachgebiet entschieden?
Ganz einfach: Ich esse gerne! Der Verdauungsapparat ist faszinierend, weil jeder Mensch eine Beziehung dazu hat – sei es durch Verdauungsprobleme oder Ernährungstrends. Und natürlich macht die Endoskopie Spass. Wir haben tolle technische Geräte, das ist ein bisschen wie «Toys for Boys».
Stichwort Ernährungstrends. Sagen Sie uns: Welche Ernährung empfehlen Sie für eine gesunde Verdauung?
Essen wie unsere Grossmutter: Normale, vielseitige Kost, keine Extreme. Die mediterrane Ernährung ist ideal: frische Zutaten, gesunde Fette, und ab und zu darf man sich etwas gönnen. Nur wenige Menschen müssen aus medizinischen Gründen eine strikte Diät halten. Interessant ist jedoch, dass Verzicht psychologisch oft guttut. Fast alle Religionen kennen Nahrungseinschränkungen – das zeigt, dass wir uns durch bewusste Disziplin wohler fühlen.
Der Darm ist mittlerweile ein Lifestyle-Thema. Was halten Sie vom Hype um das Mikrobiom?
Wir Gastroenterologen sind da eher zurückhaltend. Das Mikrobiom ist unfassbar komplex, und wir verstehen noch lange nicht, wie es genau funktioniert. Viele Tests analysieren die Zusammensetzung der Bakterien, aber was wirklich zählt, ist ihr Zusammenspiel. Das bleibt eine Blackbox.
Welche Rolle spielt Künstliche Intelligenz in Ihrer Arbeit?
Bei Darmspiegelungen hilft sie uns, Polypen besser zu erkennen – und dadurch finden wir mehr auffällige Gewebeveränderungen. Auch in der Sprechstunde nutzen wir KI-gestützte Transkriptionen: Eine Software analysiert das Arzt-Patienten-Gespräch und filtert automatisch die wichtigsten Informationen heraus. Das spart extrem viel Zeit.
Auf LinkedIn haben Sie eine grosse Community und betonen oft, wie gerne Sie Arzt sind. Was macht Ihren Beruf so besonders?
Arzt ist ein Traumberuf. Für mich ist es ein Privileg, täglich so viele unterschiedliche Menschen kennenlernen zu dürfen – vom CEO eines globalen Unternehmens bis zum Ex-Junkie. Diese Vielfalt und die enge Interaktion mit Menschen machen meinen Beruf so einzigartig.
Was würden Sie sich für die Zukunft der Medizin wünschen?
Mehr Vertrauen in uns Ärzte. Statt immer mehr Prozessvorgaben sollte man uns die Verantwortung für den Behandlungserfolg überlassen. Schliesslich ist es unser oberstes Ziel, Menschen gesund zu machen.
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