«Man fragt sich plötzlich: Behandle ich eigentlich Menschen oder Briefe?»

Im Medizinstudium lernten Massimo Barbagallo und Roman Sager kaum, wie man Arztberichte schreibt. Aus dieser Erfahrung gründeten sie eine Plattform zum Austausch von Textbausteinen.

Interview, 1. September 2025 um 22:00
letzte Aktualisierung: 20. Oktober 2025 um 06:46
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Symbolbild:>Unsplash
Die ausufernde Dokumentationslast im Gesundheitswesen ist nichts Neues. Wenig beachtet wird jedoch, dass junge Ärztinnen und Ärzte kaum im Schreiben von Arztberichten geschult werden – obwohl dies einen beträchtlichen Teil ihres Alltags ausmacht.
Aus dieser Lücke heraus ist ein Selbsthilfeprojekt der beiden Mediziner Massimo Barbagallo und Roman Sager entstanden.
Herr Barbagallo, Herr Sager – wann hatten Sie zuletzt das Gefühl: Genau deshalb bin ich Arzt geworden? Massimo Barbagallo: Heute Morgen! Mit einer gründlichen Anamnese, klinischer Untersuchung und gezielter Zusatzdiagnostik konnten wir einer Patientin mit langem neurologischem Leidensweg endlich helfen und ihre Symptome deutlich lindern. Genau das macht den Arztberuf aus.
Roman Sager: Dieser Gedanke ist mir ehrlich gesagt noch nie durch den Kopf. Ich habe Medizin studiert, weil ich lernen wollte, wie der Körper funktioniert, wie Krankheiten entstehen und wie man sie behandeln, respektive vermeiden kann. Arzt zu sein ist sozusagen der daraus resultierende Bonus.
Wie viel von diesem Ideal bleibt im Arbeitsalltag – und wie viel Zeit geht für Administration drauf? Massimo Barbagallo: Studien zeigen, dass Assistenzärzte an einem elf Stunden langen Arbeitstag nur zwei bis drei Stunden direkt am Patientenbett verbringen. Das deckt sich mit meinem Eindruck. Diese Schieflage beeinträchtigt die Arzt-Patienten-Beziehung – dabei wären Zuhören und Präsenz eigentlich zentral.
Roman Sager: Genau. Es ist paradox: Wir müssten die Zeit am Patientenbett kurz halten, weil die Administration so überhandnimmt. Gleichzeitig hinterfragt aber kaum jemand, ob sich die Dokumentation nicht einfacher gestalten liesse.

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    Massimo Barbagallo

    Facharzt für Allgemeine Innere Medizin

    Er befindet sich derzeit in der Weiterbildung zum Facharzt für Neurologie. Neben seiner klinischen Tätigkeit engagiert er sich in der Schlaganfallforschung. In seiner Freizeit ist er zudem als DJ aktiv.

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    Roman Sager

    Assistenzarzt

    Er befindet sich aktuell in der Weiterbildung zum Facharzt. Er ist leidenschaftlicher Tennisspieler und interessiert an Informatik und Technologie.


Hatten Sie den Eindruck, dass Sie das Studium auf diese Realität vorbereitet hat? Roman Sager: Leider kaum. Im Wahlstudienjahr habe ich erstmals erlebt, wie der Alltag tatsächlich aussieht – mit sehr viel Zeit vor dem Computer. Inhalte wie Berichtswesen oder Kommunikation mit Angehörigen kommen im Studium praktisch nicht vor. Massimo Barbagallo: Ich stimme zu. Medizinisch waren wir sehr gut vorbereitet – aber im Berichtswesen überhaupt nicht. Niemand hat uns gezeigt, wie ein guter Arztbrief aussieht oder welche Informationen wirklich relevant sind. Im praktischen Jahr wird man ins kalte Wasser geworfen und muss sich das Schreiben per Trial & Error aneignen. Dies häufig auf Kosten der eigenen Zeit und der Zeit des Oberarztes, der die Berichte korrigieren muss. Für viele war das die erste Welle der Desillusionierung im Beruf: Man fragt sich plötzlich – worauf habe ich mich da eingelassen? Behandle ich eigentlich Menschen oder Briefe?
«Berichteguru ist ein Hilfsmittel von Ärzten für Ärzte. Wir wollen zeigen, dass wir selbst gegen die Bürokratie etwas tun können – und auch tun müssen.» Massimo Barbagallo.
Viele Studierende denken über einen Berufswechsel nach. Kennen Sie solche Gedanken? Massimo Barbagallo: Ja, und die Vorstellung eines geregelten Arbeitsalltags mit der Möglichkeit zu Homeoffice schwirrt immer wieder in meinem Kopf herum. Gleichzeitig ist meine Arbeit im Spital so spannend und bereichernd, dass ich diese Gedanken schnell wieder beiseiteschiebe.
Was empfinden Sie im Klinikalltag als die grössten Belastungen? Roman Sager: Am frustrierendsten ist für mich die Dokumentation. Natürlich sehe ich die Notwendigkeit, für die Patientensicherheit oder aus rechtlicher Sicht. Aber 90 Prozent von dem, was ich schreibe, verschwindet in einer Datenbank, die keiner liest. Der Aufwand steht in keinem Verhältnis zum Nutzen.
Massimo Barbagallo: Hinzu kommt, dass sich die Ansprüche der Patienten in den letzten Jahren stark verändert haben, nicht zuletzt durch Informationen aus Dr. Google oder ChatGPT. Nota bene: Die daraus entstehenden Ansprüche müssen häufig auch schriftlich, d.h. per Mail/Arztbriefe beantwortet werden, was einen weiteren bürokratischen Aufwand bedeutet. Gleichzeitig gehört die stundenlange Dokumentation nach einem langen Arbeitstag zu den täglichen Herausforderungen, die Energie kosten.
Aus dieser Situation heraus haben Sie zusammen ein Selbsthilfeprojekt gegründet. Erzählen Sie.
Roman Sager: Schon im Wahlstudienjahr hatten Massimo und ich dieselbe Idee. Wir merkten, wie sehr uns die Dokumentation fordert – und wie schlecht wir darauf vorbereitet waren. Auffällig war, dass es unglaublich viele Redundanzen gibt: Eine Herz- oder Lungenuntersuchung folgt immer einer ähnlichen Struktur, nur die Befunde unterscheiden sich. Unter Kolleginnen und Kollegen kursierten deshalb Textbausteine unter der Hand. Da kam uns der Gedanke: Warum nicht diese Bausteine sammeln, teilen und gemeinsam verbessern?
«90 Prozent von dem, was ich schreibe, verschwindet in einer Datenbank, die keiner liest. Der Aufwand steht in keinem Verhältnis zum Nutzen.» — Roman Sager
Massimo Barbagallo: Ich erinnere mich an ein Beispiel: Ein Patient mit Schlaganfall muss in eine andere Klinik verlegt werden und der Transfer verzögert sich, weil der Assistenzarzt noch den Bericht tippen muss. Das darf nicht sein. Wir dachten: Das geht doch effizienter! Der Leitgedanke war, dass wir Ärztinnen und Ärzte uns gegenseitig mit einem Tool unterstützen müssen, das Austausch und Zusammenarbeit ermöglicht.
Daraus ist ‚Berichtguru‘ entstand – wie hilft die Plattform im Klinikalltag konkret ?
Roman Sager: Wir haben eine Grundsammlung an Textbausteinen bereitgestellt, frei zugänglich im Internet. Die Idee ist, dass man sich anmeldet, eigene Vorlagen hochlädt, andere bewerten und verbessern kann. So entsteht nach und nach eine Art Bibliothek, ein gemeinsamer Werkzeugkasten für alle Fachrichtungen. Für Berufsanfänger gibt es dabei noch einen zusätzlichen Nutzen: Sie vergessen nichts Wichtiges im Bericht und gewinnen Sicherheit. Natürlich gilt: Copy-Paste ohne Kontrolle ist gefährlich. Unsere Plattform versteht sich als Unterstützung, nicht als Ersatz für ärztliches Denken. Massimo Barbagallo: Wichtig war uns, dass die Plattform frei zugänglich ist und vom Austausch lebt. «Berichteguru» ist ein Hilfsmittel von Ärzten für Ärzte. Wir wollen zeigen, dass wir selbst gegen die Bürokratie etwas tun können – und, dass Lösungen aus der Ärzteschaft selbst kommen können. Statt nur auf Reformen von oben zu warten, wollen wir mit Eigeninitiative pragmatische Verbesserungen schaffen.
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