So digital ist die Gesundheitsbranche wirklich - Warum EPD kein geeigneter Digitalisierungsbarometer ist

Die Corona-Krise weckt bislang nicht ausgeschöpfte Digitalisierungspotenziale in der Kommunikation von Spitälern. Unter dem grossen Druck der Krise lassen sich plötzlich auch hartnäckige Verfechter analoger Systeme für die digitale Ära begeistern.

, 9. Dezember 2020 um 12:21
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Neueste Studien wie die der ZHAW zu Digitalisierungsfortschritten im Gesundheitswesen zeigen, dass Schweizer Spitäler im Vergleich zu anderen Ländern immer noch weit hinter dem Mittelfeld tümpeln. Doch ist das wirklich der Fall? Wie sieht es mit der Digitalisierung abseits von Patientendaten aus? Wie steht es um die Schweiz dort?

Digitalisierung ist mehr als digitale Patientendaten

Die Schweiz ist ein Land, wo Konsens gefunden wird, wo alle Meinungen Gehör finden, wo Menschen zurecht Einwände haben dürfen, wenn ihre Daten zum Beispiel an Dritte weitergegeben werden. Hier werden Digitalisierungsprojekte nicht einfach mal von einer Staatsmacht umgesetzt, weil sie zur Effizienzsteigerung und Kostenreduktion beitragen, sondern zuerst wird geredet, debattiert, getestet und auf Persönlichkeitsrechte, Datenschutz, Demokratie und persönliches Wohlbefinden Rücksicht genommen.
Deshalb hinkt zum Beispiel das elektronische Patientendossier (EPD) hinterher - und es ist mitunter ein Grund, warum die sonst so innovative Schweiz einen lausigen Platz auf der Digitalisierungsskala einnimmt. Unser Land funktioniert eben in vielen Belangen anders und es scheint mir voreilig, die Innovationskraft der Schweizer Spitäler an einem politischen Thema wie dem EPD zu messen - wie es in den vielen aktuellen Studien oft der Fall ist. Denn, wie sieht es mit der Digitalisierung aus, wenn keine heiklen Patientendaten digitalisiert werden?

Geschäftsführung als wichtiger Faktor in Digitalisierungsfragen

Schaut man sich Zahlen an, sehen die Bemühungen der Spitäler gar nicht so schlecht aus. 88 Prozent von ihnen sagen, das Thema hätte hohe Relevanz bei ihnen. Auch ich sehe bei unseren Kunden in der Gesundheitsbranche, dass der Innovationswille, vor allem von jüngeren operativ tätigen Mitarbeitenden, mehr als gegeben ist. Interdisziplinäre Organisationen wie die eHealth Suisse bringen die digitalen Themen konsumfertig auf den Tisch. Es gibt unzählige Bemühungen in der e-Health-Branche: Konferenzen, Arbeitsgruppen, Initiativen und Webinare und sogar Studiengänge, die sich mit der Digitalisierung der Gesundheitsbranche befassen - warum passiert der Wandel in Spitälern und Heimen so langsam? Und betrifft es nur die Gesundheitsbranche? Als Inhaber einer Software-Firma, die Digitalisierungs-Lösungen in verschiedenen Branchen anbietet, fällt mir besonders auf, dass vor allem die Geschäftsführungsebene ein entscheidender Faktor in Digitalisierungsfragen ist. Das ist weniger abhängig von der Branche. Die Geschäftsleitungsebene ist nun gefragt als Vorbild zu fungieren und diese Themen aktiv voranzutreiben.

Digitalisierung ist vor allem für Junge relevant

Die 2019 veröffentlichte Studie Digital Barometer von Apropos Swiss zeigt deutlich, dass junge Arbeitskräfte die Möglichkeiten einer digitalen Arbeitswelt nutzen wollen. Ältere Arbeitgeber und Mitarbeitende hingegen stufen die Digitalisierung als weniger relevant ein: Gerade mal 35 Prozent der 50- bis 64-Jährigen erachten sie als wichtig. Dem gegenüber stehen die 18- bis 34-Jährigen, von denen 63 Prozent angeben, dass die Digitalisierung für sie relevant sei und ihren Job zukünftig beeinflussen wird.
Die Bereitschaft, das eigene Verhalten an die Digitalisierung anzupassen (z.B. mittels Weiterbildungen oder der Einführung neuer Tools) ist bei den Jungen zwischen 18 und 34 Jahren viel höher (57 %) als bei den 35 bis 49-Jährigen (28 %). Man könnte einigen Exponenten der älteren Generationen fast schon Digitalisierungsverweigerung unterstellen. Das Problem dabei ist, dass genau diese Altersgruppe oft das Sagen hat und über die Einführung von Digitalisierungsprojekten entscheiden kann.

Digitalisierung ist oft Chefsache

Die Digitalisierung ist schlussendlich oftmals Chefsache und da liegt wohl häufig das Problem. Denn die Führungskräfte in Spitälern (aber auch anderen Branchen) sind gemäss einer PwC-Studie von 2017 durchschnittlich 54 Jahre alt, also genau in einem Alter, in dem sie sich laut Digital Barometer von der Digitalisierung am wenigsten betroffen fühlen. Das führt unter anderem dazu, dass es seitens Digitalisierungs-Fans mehr Überzeugungsarbeit und Aufklärung braucht, um die Grauen Eminenzen zu überzeugen. Natürlich gibt es Ausnahmen. Viele unserer Kunden engagieren sich auch mit älterem Kader stark in Sachen Digitalisierung und sind als innovative Spitäler ein Vorbild für ihre Branche.

Privatspitäler investieren in Patientenerlebnis

Die Themen Datensicherheit und Datenschutz werfen berechtigterweise nicht nur bei Themen wie dem EPD Fragen auf. Diese Aspekte hemmen Spitäler oft darin, Entscheidungen zu treffen. Dazu kommt, dass Entscheidungsträger aufgrund von allgegenwärtigen Sparmassnahmen im Gesundheitswesen ebenfalls nicht bereit sind, in Digitalisierungsprojekte zu investieren - vor allem wenn diese nicht sofort Kosten einsparen. Privatspitäler sind hierbei oft einen Schritt voraus, weil sie die Digitalisierung als nachhaltige Investition sehen. Sei es, um das Patientenerlebnis zu maximieren oder die Mitarbeiterzufriedenheit zu verbessern.

Unzureichende Datenlage für notwendige Aufklärung

Egal ob Kollaborations-Tools, Kommunikations-Apps, Prozessdigitalisierung oder Produktinnovation: essentiell für die erfolgreiche Implementierung eines Projekts, ist ein überzeugtes Kader. Dazu braucht es Fakten und Zahlen. Isolierte Betrachtungen dieser Prozesse und der zentralen Leistungserbringer (Kliniken und Spitäler) fehlen bis jetzt aber in den Studien über die Digitalisierung des Gesundheitswesens. Zu hoffen ist, dass die Spitäler, welche bereits Projekte umgesetzt haben, bald schon genügend Daten haben, um aufzuzeigen, dass es sich lohnt, in die Digitalisierung zu investieren. Ausser Frage steht dabei die Notwendigkeit, das Thema Digitalisierung auch ausserhalb vom EDP voranzutreiben. Nur so kann eine steigende Qualität und Produktivität gewährleistet werden, um auch in Zukunft den Herausforderungen durch etwa den Fachkräftemangel oder den demographischen Wandel in der Schweiz gewachsen zu sein.
Cris Grossmann ist CEO bei der Beekeeper AG und promovierter Chemieingenieur der ETH Zürich. Bevor er Beekeeper 2012 gegründet hat, arbeitete er als IT-Stratege für Accenture und betreute in diesem Rahmen mehrere grosse, internationale Projekte.
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