Am 10. Juli 2025 lief die Referendumsfrist zur
KVG-Revision «Massnahmen zur Kostendämpfung – Paket 2» ab. Das revidierte KVG erlaubt es den Krankenversicherern künftig, ihre Versicherten aktiv und gezielt zu informieren – und zwar über «kostengünstigere Leistungen, die Wahl von geeigneten besonderen Versicherungsformen und präventive Massnahmen». Damit können Krankenversicherer erstmals ihren Versicherten krankheitsspezifische Empfehlungen aussprechen.
Wenn die Krankenkasse plötzlich ihre Versicherten berät
Stellen Sie sich folgendes Szenario vor; Ihr Telefon klingelt:
«Guten Tag, hier ist Ihre Krankenkasse. Wir haben Ihre Gesundheitsdaten bei uns analysiert und sehen Optimierungspotenzial – dürfen wir Ihnen etwas empfehlen?»
Sie stimmen zu und der freundliche Sachbearbeiter legt los:
«Sie nehmen aktuell das Originalpräparat XY gegen Ihren Diabetes, wollen Sie nicht auf ein günstigeres Generikum mit gleicher Wirkung umsteigen?
Zudem sind Sie eben gerade 50 Jahre alt geworden, herzliche Gratulation! Ab diesem Alter empfiehlt sich ein regelmässiges Darmkrebs-Screening, das gar von der OKP übernommen wird. Sollen wir Sie gleich anmelden?
Und übrigens: In Ihrem Dorf gibt es ein Ärztenetzwerk, vielleicht wäre ein alternatives Versicherungsmodell für Sie passend?»
Das Szenario wird nach Inkrafttreten des Kostendämpfungspakets 2 Realität: Krankenversicherer dürfen die Daten ihrer Versicherten künftig systematisch auswerten und anhand der Ergebnisse gezielte, individuelle Empfehlungen an ihre Versicherten abgeben. Inhaltlich ist die Beratung zwar begrenzt. Zulässig ist einzig die Information über:
- «kostengünstigere Leistungen»;
- «die Wahl geeigneter besonderer Versicherungsformen»; und
- «präventive Massnahmen».
Auf den ersten Blick scheint der Spielraum vom neu geschaffenen Art. 56a KVG damit eng begrenzt, in seinem Ansatz stellt er jedoch einen Bruch mit dem reinen Kostenerstattungsprinzip der Versicherer dar – und rüttelt damit am traditionellen Rollenbild der Ärztinnen und Ärzte.
Fabian Altmann ist als Rechtsanwalt mit Schwerpunkt Health Care &Life Sciences bei der schweizweit tätigen Anwaltskanzlei
Walder Wyss tätig. Er berät zu regulatorischen Fragestellungen im gesamten öffentlichen Wirtschaftsrecht und legt dabei einen besonderen Fokus auf die rechtliche Gestaltung von Beziehungen zwischen den verschiedenen Akteuren des Gesundheitswesens. Er unterstützt Klienten bei vielschichtigen Fragen des öffentlichen Rechts, insbesondere an dessen Schnittstellen zum Gesellschafts- und allgemeinen Privatrecht.
Historisches Rollenverständnis der Krankenversicherer
Das KVG setzte nach der Grundidee des Gesetzgebers auf eine strikte Arbeitsteilung:
- Die Politik gibt vor, welche Leistungen zu welchen Bedingungen von der OKP (mit-)finanziert werden;
- die Leistungserbringer behandeln die Versicherten;
- die Krankenkassen kontrollieren die Rechnungen der Leistungserbringer und erstatten die angefallenen Kosten.
Das gesetzliche Rollenverständnis der Krankenversicherer ist somit traditionell eng gefasst. Ihre Hauptaufgaben bestehen darin, Prämien einzuziehen, Tarife mit Leistungserbringern auszuhandeln, Leistungsabrechnungen auf ihre Gesetzes- und Tarifvertragskonformität zu überprüfen und Kosten zu erstatten.
Damit agieren sie primär als «Zahlstelle». Die Kompetenzordnung des KVG gestattet es den Krankenkassen insbesondere nicht, selbst erstattungsfähige Leistungen zu erbringen oder ihre Versicherten im Kontext medizinischer Behandlungen individuell-konkret zu beraten. Eine krankheitsspezifische Empfehlung an ausgewählte Versicherte ist bisher exklusiv den Leistungserbringern vorbehalten.
An dieser Kompetenzordnung orientiert sich auch die Zulässigkeit von Datenbearbeitungen durch die Krankenkassen. Krankenkassen sind Vollzugsorgane des Bundes. Sie unterstehen dem Legalitätsprinzip. Versichertendaten dürfen sie deshalb ausschliesslich im Rahmen ihrer gesetzlichen Kernaufgaben bearbeiten, namentlich zur Berechnung und Erhebung der Prämien, zur Aushandlung und Umsetzung von Tarifverträgen, zur Prüfung eingereichter Rechnungen sowie zur Vergütung der entsprechenden Kosten.
Gesetzliche Aufgabenerweiterung der Krankenversicherer als Antwort auf Informationsasymmetrien im Gesundheitswesen
Mit dem Ziel, Informationsasymmetrien im Schweizer Gesundheitswesen zu überwinden, greift der Gesetzgeber nun in dieses ehemalige Grundprinzip des KVG ein. Das gesetzliche Aufgabenverständnis der Krankenkassen wird massgeblich erweitert. Neu dürfen Kassen selbst aktiv auf den Behandlungspfad ihrer Versicherten einwirken und sie in medizinischen Belangen beraten.
Mit Art. 56a KVG wird es gar zur gesetzlichen Aufgabe der Krankenversicherer, ihre OKP-Versicherten gezielt über präventive Massnahmen, geeignete Versicherungsmodelle und kostengünstigere Leistungen zu informieren. Daraus folgt, dass die Krankenkassen neu die (Gesundheits-)Daten ihrer Versicherten nicht nur auswerten «dürfen», um diese zu beraten (Art. 84 Abs. 1 lit. j KVG).
Die Krankenversicherer müssen sie auswerten. Ansonsten kommen sie ihrer gesetzlichen Pflicht zur Beratung nicht nach.
Da die Datenbearbeitung damit auf einer formell-gesetzlichen Grundlage beruht, ist keine vorgängige Einwilligung der Versicherten erforderlich. Art. 56a Abs. 2 KVG statuiert lediglich ein Opt-out: Krankenkassen müssen deshalb ihre Versicherten lediglich beim Erstkontakt auf ihr Widerspruchsrecht hinweisen. Zudem können Versicherte jederzeit verlangen, dass die Beratung der Krankenkasse eingestellt wird.
Fazit und Ausblick
Die Erweiterung der gesetzlichen Aufgaben der Krankenkassen erfolgt nicht auf Vorschlag des Bundesrats, sondern wurde erst von der nationalrätlichen SGK in den Gesetzgebungsprozess eingebracht. Entsprechend sucht man in den Materialien vergeblich nach Erläuterungen. Orientierung bieten allein die systematische Einordnung von Art. 56a im 6. Abschnitt des KVG zur Kontrolle der Wirtschaftlichkeit und Qualität der Leistungen sowie die Debatten im Parlament.
Aus Letzteren geht hervor, dass die Kassen künftig beispielsweise über günstigere Generika, Ärztenetzwerke in der Region des Versicherten oder anstehende Kontrolluntersuchungen bei chronischen Erkrankungen informieren dürfen. Damit bleibt jedoch vieles unklar und auslegungsbedürftig:
- Was ist genau unter «kostengünstigeren Leistungen» zu verstehen? Geht es primär um den Hinweis auf Generika oder können auch «kostengünstigere» Behandlungsmethoden oder gar «kostengünstigere» Leistungserbringer empfohlen werden?
- Ebenso unklar bleibt, was unter «präventiven Massnahmen» zu verstehen ist. Knüpft der Begriff an die in Art. 26 KVG geregelten Präventionsleistungen an, an deren Kosten sich die OKP beteiligt? Oder erfasst er darüber hinaus auch tertiäre Präventionsmassnahmen bei bereits diagnostizierten Erkrankungen – etwa zur Verhinderung von Komplikationen, Rückfällen oder Folgeschäden sowie zur Optimierung der Langzeitversorgung?
Fest steht: Der Gesetzgeber hat mit Art. 56a KVG die Aufgabe des Krankenversicherers als reiner «Kostenerstatter» partiell ergänzt. Was die Krankenversicherer damit tun, und wo die Aufsichtsbehörden und Rechtsprechung die Grenzen ziehen werden, bleibt abzuwarten. Erste Praxisfälle und allfällige Beschwerden werden zeigen, ob Art. 56a KVG tatsächlich den Beginn eines Paradigmenwechsels markiert oder die traditionelle Rollenteilung bestehen bleibt. Jedenfalls erfolgte der Paradigmenwechsel im Rahmen des Kostendämpfungspakets 2. An der Kostendämpfung werden die Aktivitäten der Krankenversicherer wohl gemessen werden.
- Die «Rechtsfrage der Woche» ist ein Partner-Inhalt von Walder Wyss.
Eine dynamische Präsenz im Markt – Walder Wyss gehört mit mehr als 300 juristischen Experten und Expertinnen an sechs Standorten in allen Sprachregionen zu den führenden Schweizer Kanzleien für Wirtschaftsrecht. Kontinuierliches Wachstum, Kollegialität, Teamarbeit und Leistungswille haben bei Walder Wyss einen hohen Stellenwert – über alle Bereiche und Funktionen hinweg.