Deshalb ist das Spitalpersonal plötzlich so impfbereit

Noch vor kurzem galten Spitalangestellte als die grossen Impfskeptiker. Nun wollen sich plötzlich bis zu 70 Prozent impfen lassen. Warum dieser Stimmungsumschwung?

, 3. Februar 2021 um 05:00
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Die Zahlen überraschen: Der Verband Zürcher Krankenhäuser (VZK) geht davon aus, dass sich rund 70 Prozent ihres Personals mit direktem Kontakt zu Covid-19-Patienten impfen lassen will. Zum Vergleich: Gegen Grippe lassen sich nicht einmal 30 Prozent impfen.

Eine Mehrheit würde bei Impfzwang kündigen

Bisher war das Gesundheitspersonal mehrheitlich impfkritisch, wie auch eine Umfrage von Medinside zeigte. Demnach wäre sogar für 53 Prozent ein Impfzwang an ihrem Arbeitsort ein Kündigungsgrund.
Doch selbst der Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner SBK zeigt sich derzeit impffreundlich: «Es ist eine Chance, dass sich Pflegefachpersonen durch die Impfung selbst schützen können. Die Impfung verhindert, dass Pflegende schwer an Covid-19 erkranken», nimmt der Verband Stellung. Und überall wird die Forderung laut, dass sich das medizinische Personal vorrangig impfen lassen könne.

Kantone geben Spitalpersonal den Vorrang

Bemerkenswert ist auch: Einige Kantone - darunter Zürich und Basel-Stadt - haben sich sogar über die Impfstrategie des Bundes hinweggesetzt und haben damit begonnen, das Gesundheitspersonal viel früher als vorgesehen zu impfen. Auch Bern will das Pflegepersonal, das mit Covid-Patienten in Kontakt ist, vorrangig impfen.
Von grossem Widerstand in den Spitälern ist nichts zu hören. Das Personal würde sich wahrscheinlich weiterhin vehement gegen einen Zwang zum Impfen wehren. Doch scheint derzeit die freiwillige Bereitschaft, sich die Impfspritze setzen zu lassen, recht gross. Warum dieser schnelle Umschwung beim Schweizer Gesundheitspersonal bei der Impffrage?

Wie bei Abstimmungen: Stimmung kippt, wenn der Termin naht

Diese Frage hat Medinside dem Zürcher Psychoanalytiker Peter Schneider gestellt. Seine Erklärung: «Mit den Umfragen zur Impfbereitschaft ist es vermutlich wie mit den Umfragen zu Volksinitiativen. Je näher der Abstimmungstermin rückt oder - in diesem Fall: je näher die Möglichkeit kommt, sich impfen zu lassen - desto mehr kippt die Stimmung», sagt er.
Das bedeute jedoch nicht, dass die Hardcore-Impfverweigerer plötzlich ins Lager der Impf-Enthusiasten gewechselt hätten. Er ist überzeugt: Aus den Verweigerern werden nicht von einem Tag auf den anderen sogenannte «Impfdrängler». Als solche werden derzeit zum Beispiel Bundeshaus-Parlamentarier oder Einzelpersonen wie der südafrikanische Hirslanden-Investor Johann Rupert bezeichnet.

Nicht im Voraus blind zugestimmt

Peter Schneider glaubt, dass sich jetzt vielmehr auch jene impfen lassen, die, als es noch keinen Impfstoff gab, nicht als jene erscheinen wollten, die blind einer Impfung zustimmen. Es ist anzunehmen, dass es besonders beim Gesundheitspersonal etliche solche kritisch eingestellte, aber nicht generell verweigernde Impfanwärterinnen und -anwärter gibt. Für sie hat sich die Lage nun geändert: Es gibt keinen Impfzwang, sondern zu wenig Impfdosen. Ausserdem haben die Impfungen bis jetzt keine gravierenden Nebenwirkungen gezeigt.
Peter Schneider sieht denn auch keine bedeutsame Verschiebung in den Mehrheitsverhältnissen. Vielmehr ortet er in der gesamten Bevölkerung eine Verschiebung der öffentlichen Aufmerksamkeit: Für Impfskeptiker interessiere sich derzeit niemand mehr, für die Impfstoffknappheit hingegen sehr wohl. Oder in Peter Schneiders Worten: «Der Schauer des Publikums über anthroposophische Paramedizin erschöpft sich mit der Zeit ebenso wie der Grusel über Verschwörungstheorien und deren Exponenten.»

Warum sich Spitalpersonal nicht einfach brav «durchimpfen» lässt

Immer wieder ist die Rede davon: Spitalpersonal sei «impfkritisch» - wenn nicht sogar «impfrenitent».  Das hat gute Gründe:
  • Die Wirksamkeit der Influenza-Impfung liegt je nach Jahr unter 50 Prozent.
  • Spitalpersonal schätzt die Wirkung anderer Massnahmen wie Händehygiene und Maskentragpflicht höher ein, als wenn es sich gegen Grippe impfen lässt.
  • Viele Pflegefachleute fühlen sich durch die «moralisierende Kommunikation» der letzten Jahre unter Druck gesetzt. Das löst Widerstand aus.
Nicht überall ist das Spitalpersonal gleich eingestellt: In Kinderspitälern lassen sich mehr Angestellte impfen. Auch in der Romandie ist die Impfquote höher als in der Deutschweiz.
Eine Studie eruierte vor drei Jahren drei Motive, die im Zusammenspiel zu Impf-Abneigung führen:
  • Der Glaube, einen starken und gesunden Körper zu haben – dies steht im Widerspruch zum Impfen.
  • Der Anspruch auf Entscheidungsautonomie über den eigenen Körper.
  • Die Wahrnehmung, dass den Pflegeprofis mit den Impf-Aufforderungen eine gewisse Unzuverlässigkeit unterstellt wird.
Auch Medinside ging schon mehrmals der Frage nach, warum sich Pflegefachleute weniger gern impfen lassen. So kommt in diesem Artikel die Fachhochschul-Dozentin Sabine Heuss zum Schluss: «Die aktuellen Kommunikationskampagnen zu einer verbesserten Durchimpfungsrate bewirken oft eine Schuldzuweisung der nichtgeimpften Berufsgruppen.» Diese Vorwürfe würden zu Reaktanzreaktionen führen.
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