Sind Geimpfte moralisch die besseren Menschen?

Aus ethischer Sicht sei massgebend, ob es weniger eingreifende Massnahmen als eine Covid-19-Impfung gebe, um andere zu schützen. Dies sagt Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle.

, 26. Juli 2021 um 04:00
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Es werden immer mehr Forderungen laut, nicht geimpftes Gesundheitspersonal zu kennzeichnen. Umgekehrt präsentieren sich auch Menschen derzeit auf sozialen Medien mit einem Button «gegen Covid-19 geimpft». Solche Ideen findet die Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle «hochproblematisch», wie sie in einem Interview mit der NZZ sagt. 
«Die Kennzeichnung von ungeimpften Personen impliziert, dass die Geimpften moralisch die besseren Menschen sind», sagt die Leiterin des Interdisziplinären Instituts für Ethik im Gesundheitswesen der Stiftung Dialog Ethik.

«Das ist fundamentalistisch»

Durch derartige Methoden würde man ihr zufolge die Gesellschaft noch tiefer spalten, als sie es jetzt schon ist. Statt die ethischen Grundkonflikte auf den Tisch zu legen und offen darüber zu diskutieren, wolle man sie unterdrücken. «Das ist fundamentalistisch», so die 64-jährige Ex­per­tin für Ethik in Or­ga­ni­sa­ti­onen und in der Ge­sell­schaft.
Auf die Impfpflicht für die Gesundheitsprofis angesprochen, sagt sie, dass diese Gruppe sehr gut wisse, wie man vorgehen müsse, um Krankheitsübertragungen zu verhindern. «Aus ethischer Sicht ist massgebend, ob es weniger eingreifende Massnahmen gibt, um andere zu schützen.» Bei Corona gibt es sie, wie sie hinzu fügt. Als zusätzliche Massnahme könnte man ihr zufolge beispielsweise Antikörpertests durchführen, um zu sehen, wer vom Personal bereits infiziert war.

Jetzt ein Impfobligatorium sei sehr heikel

Ruth Baumann-Hölzle spricht im Interview nebst der Frage von Risiko und Nutzen für die Jungen noch einen weiteren Aspekt an: Es werde nicht berücksichtigt, dass wir heute noch wenig über die längerfristige Schutzwirkung der Covid-19-Impfung und über allfällige Langzeitfolgen wüssten. So werde die Phase-3-Studie zum Impfstoff von Pfizer/Biontech etwa erst nächstes Jahr abgeschlossen sein. «In einer solch unsicheren Situation ein Impfobligatorium zu fordern, ist ethisch sehr heikel.» Denn die Teilnahme an medizinischer Forschung bedinge Freiwilligkeit.
Der Wissensstand sei derzeit sowieso zu gering, als dass man gestützt darauf massive Grundrechtseinschränkungen wie eine Impfpflicht oder eine Zweiklassengesellschaft von Geimpften und Nichtgeimpften einführen könnte. Wichtig sei transparente Information, so die promovierte Theologin, die unter anderem an der Har­vard Di­vi­ni­ty School in Cam­bridge forschte. So würde man ihr zufolge jetzt beispielsweise gerne wissen, wie die Lage in Israel ist und wie hoch die Zahl der Personen insgesamt ausfällt, die trotz Impfung hospitalisiert werden mussten.
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