RSV-Virus: Wie bedrohlich ist die Situation in der Schweiz?

Diese Woche sorgte ein Tweet einer Ärztin für Furore: Haben Kinder am Kispi Zürich keine Betten mehr? Medinside hat vier grosse Kinderspitäler zur aktuellen Lage befragt.

, 8. Oktober 2021 um 13:58
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Dieser Tweet schlug in den sozialen Kanälen und in der Medienlandschaft ein wie ein Blitz:
«Gestern ein sechs Wochen altes Baby mit RSV ins Spital eingewiesen – diese Erkrankung kann zu einem Atemstillstand führen – es wurde nicht aufgenommen, weil sie KEIN Bett haben! Die Kindsmutter: das Kinderspital ist überfüllt, selbst auf den Gängen liegen Kinder – wie im Krieg.»
Georg Schäppi, CEO des Zürcher Kinderspitals, dementierte diesen heftigen Vorwurf in den Medien: Die Auslastung sei zwar gross, es seien aber nicht alle Betten besetzt. Trotzdem komme es vor, dass Ärzte Behandlungen auf dem Gang machen müssen.
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Printscreen Twitter.
Doch wie bedrohlich ist die Lage hinsichtlich des Respiratorischen-Synzytial-Virus, kurz RSV, in der Schweiz tatsächlich? Medinside hat die grossen Kinderspitäler der Kantone Luzern, Bern, Aargau sowie Basel Land und Stadt, befragt.

Zahlen sinken tendenziell

«Wir stellen eine für diese Jahreszeit ungewöhnlich hohe Anzahl an Kindern mit Atemwegsinfekten, unter anderem RSV, fest. Dieser Anstieg begann im Mai 2021», sagt Professor Henrik Köhler, Chefarzt und Leiter Klinik für Kinder und Jugendliche des Kantonsspitals Aargau (KSA).
  • Zur Erklärung: Treten RSV-Fälle ab Mai auf, sprechen die Spezialisten von einem ausserordentlichen Anstieg. Die normale «Saison» für das RSV-Virus fängt in der Regel im November an und dauert bis März.
Einen ungewöhnlichen, «aussersaisonalen» Ausbruch dieser Infektionen – zum Teil mit schweren Verläufen, die einen Aufenthalt auf der intensivmedizinischen Station notwendig machen –, verzeichnet auch das Kinderspital beider Basel (UKBB). Dort traten ab März vereinzelte RSV-Fälle auf; mit 25 Fällen wurde im Juni der aussersaisonale Peak erreicht. «Seither bewegen sich die Fallzahlen auf einem Level, wie wir sie sonst aus Wintermonaten kennen», sagt Professor Ulrich Heininger, Leitender Arzt Infektiologie/Vakzinologie und stellvertretender Chefarzt am Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKKB).
Über eine hohe Anzahl an hospitalisierten Kindern mit einer RS-Virus-Infektion sprechen das Luzerner Kinderspital (LUKS) und das Kinderspital Bern. Professor Christoph Aebi, Chefarzt Universitätsklinik für Kinderheilkunde der Insel Gruppe: «Wir beobachten seit Juni 2021 eine Häufung respiratorischer Virusinfektionen, die es in den vorangegangenen Jahren so nicht gegeben hat, vor allem mit dem RSV Virus.» Während RSV-Infektionen im Winter 2020/2021 vollständig ausblieben, wurden die maximalen Fallzahlen im Juli und August 2021 erreicht, das berichten auch die anderen Spitäler. «Gegenwärtig sind die Fallzahlen tendenziell wieder sinkend.»

Zustände wie im Krieg?

Die Bettenauslastung in den Spitälern ist «sehr hoch», sagt Henrik Köhler vom KSA. Die hohe Auslastung bestätigt das UKBB: «Wir haben aber auf Kosten der Umplanung von Aufenthalten nicht akut erkrankter Patienten noch keine Kinder mit RSV-Infektion abweisen müssen», betont Ulrich Heininger.
«Bisher haben wir keine Kinder mit RSV abweisen oder in ein anderes Spital verlegen müssen.»
Das Kinderspital Bern hatte im Juli und August eine vollständige Belegung der Normalstationen (50 Prozent RSV) und Intensivstation (nur vereinzelt RSV ). Gegenwärtig liege die Auslastung bei 20 Prozent mit RSV auf Normalstationen und bei rund fünf Prozent Auslastung mit RSV auf der Intensivstation. Die Totalauslastung der Klinik betrage 85 Prozent, teilt das Spital mit.
Ebenso in den letzten Monaten stark durch die RS-Virus-Infektionen beansprucht, wurden die Infektabteilung und der Notfall am Kinderspital Luzern. Bisher habe man keine Kinder mit RSV abweisen, oder in ein anderes Spital verlegen müssen, sagt Martin Stocker, Chefarzt pädiatrische Intensivmedizin und Neonatologie und Leiter des Luzerner Kinderspitals (LUKS=.

«Beatmungen sind selten»

Dass Kinder nach Hause geschickt werden müssen, scheint selten der Fall zu sein: Wie die Spitäler mitteilen, helfen sich die Schweizer Kinderkliniken bei vereinzelten Bettenengpässen aus. Während Kinder öfters während der akuten Infektion zusätzlich Sauerstoff oder eine Atemhilfe benötigen, sind künstliche Beatmungen eher selten. Ulrich Heiniger: «Diese können bei RSV-Infektionen zuweilen notwendig sein, insbesondere bei sehr jungen Säuglingen. Es betrifft jedoch weniger als zehn Prozent.»
Weil das RSV-Virus hochinfektiös ist, werden gemäss der Kinderspitäler Bern und Basel alle infektiösen Patienten standradmässig isoliert. «Bedrohlich ist die Situation nicht, aber sehr ressourcenintensiv für uns und unser Personal», betont Heininger. 
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Printscreen Pädiatrie Schweiz.

Kinderärzte sind besorgt

Die knappen Ressourcen, gerade auf den Intensivstationen, sind aktuell ein grosses Thema. Martin Stocker: «Die Kinderärzte sind besorgt. Sie können nicht voraussehen, wie sich die Lage weiterentwickeln wird.» Unsicher sei,
  • ob die RS-Virus-Saison von diesem Sommer ohne Unterbruch in die übliche Winter-RS-Virus-Saison übergehe und
  • wie sich die Grippe-Saison verhalten werde.
«Wir hoffen, dass das Pflegepersonal und die Ärzte nicht weiter aufgrund einer ununterbrochenen und langen Infekt-Saison in hohem Masse belastet werden.»
Auch in Bern beobachtet man diese Entwicklung seit dem Frühsommer mit Argusaugen. «Weil es sich um ein neuartiges Phänomen handelt, ist eine exakte Prognose über den weiteren Verlauf nicht möglich», sagt Christoph Aebi. Sicher sei, dass RSV ist für Kleinkinder um vieles gefährlicher sei als Covid. Das Coronavirus sei für Kleinkinder ein äusserst selten relevanter Erreger und trage nicht zur Spitalbelastung bei.
Hier finden Sie die aktuellen RSV-Zahlen. 

RSV-Virus: Der frühe Ausbruch

Das sagen die Spezialisten

Das RSV-Virus verbreitete sich 2021 ungewöhnlich früh. Dajan Roman, Mediensprecher des Bündner Kantonsspitals sagte gegenüber dem St. Galler Tagblatt, man gehe davon aus, «dass das Virus aufgrund der Schutzmassnahmen im letzten Herbst und Winter gar nicht zirkulieren konnte».
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Die Corona-Massnahmen haben Auswirkungen auf andere Viren und auf das Immunsystem. (Symbolbild Pixabay)
Medinside wollte von den vier Spezialisten der Kinderspitäler beider Basel, Aargau, Luzern und Bern wissen:
Was sagen Sie zur Bündner-Aussage betreffend die Schutzmassnahmen? Welche Rolle spielen die Schutzmasken? Schwächen diese das Immunsystem?
Das sind ihre Antworten:
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Professor Henrik Köhler,

Chefarzt und Leiter Klinik für Kinder und Jugendliche des Kantonsspitals Aargau (KSA):
«Der Anstieg seit Mai wird allgemein als Nachholeffekt bezeichnet. Aufgrund der Schutzmassnahmen konnten Viren, auch Nicht-Corona-Viren, nicht wie üblich in der vornehmlich jungen Bevölkerung zirkulieren. Kinder werden üblicherweise nach und nach exponiert und bauen so einen Immunschutz auf. Nun treffen Viren auf viele Kinder, die noch keinen Schutz, beispielsweise gegen RSV aufgebaut haben.»
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Professor Ulrich Heininger,

Leitender Arzt Infektiologie/Vakzinologie und stellvertretender Chefarzt am Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB):
«Schutzmasken schwächen das Immunsystem nicht. Das Tragen des Mundnasenschutzes beeinflusst den Kontakt mit Infektionserregern negativ und beeinträchtigt somit indirekt die kindliche Abwehrlage. Es ist anzunehmen, dass es aufgrund der Aufhebung beziehungsweise Lockerung von Massnahmen gegen das Sars-CoV-2-Virus zu vermehrten Übertragungen anderer Viren kommt. Offenbar – und nicht unerwartet –, waren die Massnahmen nicht nur für Corona sondern auch für andere Atemwegsviren effektiv, die als Tröpfchen von Mensch zu Mensch übertragen werden. Durch eine längere Periode mit wenig RSV Übertragungen gibt es jetzt eine grössere Anzahl empfänglicher Säuglinge und Kleinkinder, die noch keine oder eine unzureichende Immunität gegenüber RSV haben. Wenn der Ausbruch noch später gekommen wäre, wäre er wohl noch heftiger ausgefallen.»
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Christoph Aebi,

Chefarzt Universitätsklinik für Kinderheilkunde Insel Gruppe, Bern:
«Wir gehen ebenfalls davon aus, dass die Covid-19-Schutzmassnahmen bis Frühling 2021 die sonst sehr häufigen Infektionskrankheiten –im Winter RSV, Influenza, Rhinoviren etc. –, komplett verhindert oder massiv reduziert haben. Die sonst jährliche Winterepidemie mit RSV, die üblicherweise schweizweit zirka 2000 Hospitalisation pro Winter verursacht, ist komplett ausgeblieben, ebenso die Grippe (Influenza), aber auch zum Beispiel die virale Sommermeningitis durch Enteroviren.»
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Martin Stocker,

Chefarzt pädiatrische Intensivmedizin und Neonatologie und Leiter des Luzerner Kinderspitals (LUKS):
«Im Winter 2020/2021 haben wir wohl auch wegen der geltenden Schutz- und Hygienemassnahmen fast keine Kinder mit RSV gesehen, da das Virus nicht zirkulieren konnte. Nun sehen wir ein sogenanntes intersaisonales Auftreten. Viele junge Kinder konnten im Winter 2020/21 keine Immunität aufbauen. Der Grund ist nicht eine Schwächung des Immunsystems, sondern der fehlende Kontakt die Kinder mit dem Virus. Die wieder aufgekommene Reisetätigkeit der Bevölkerung und die reduzierten Schutz- und Hygienemassnahmen sind wohl nun der Grund, dass das RS-Virus wieder zirkulieren kann. Insgesamt bleibt aber unklar, weshalb die Infektionsrate bereits im Sommer und nicht erst in der kalten Jahreszeit angestiegen ist.»

Respiratorisches-Synzytial-Virus (RSV)

Das Virus ist verantwortlich für die meisten Fälle von akuter Bronchitis bei Säuglingen und kleinen Kindern. In der Schweiz tritt im Rhythmus von zwei Jahren jeweils eine stärkere Epidemie auf.
Es handelt sich um eine hochinfektiöse Tröpfcheninfektion; Eintrittspforten bilden die Bindehaut und Nasenschleimhaut. Eine Übertragung ist auch durch verunreinigte Gegenstände und Oberflächen (auch Hände) möglich.
Die Ansteckungsfähigkeit besteht in der Regel eins bis fünf Tage. Die Inkubationszeit von der Ansteckung bis zur Erkrankung dauert zwei bis acht Tage. Danach zeigen sich Symptome wie Schnupfen, starker Husten, Fieber und häufig auch eine Bindehautentzündung.
Oft kommt es als Zusatzinfektion zu einer bakteriellen Mittelohrentzündung. Die häufigsten Komplikationen sind Lungenentzündungen, die bei bis zu 40 Prozent der hospitalisierten Fälle auftreten, insbesondere bei Säuglingen und Kindern unter zwei Jahren.
Bei grösseren Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen kann RSV gelegentlich einen länger anhaltenden, trockenen Husten verursachen.
Die RSV-Infektion ist weltweit verbreitet und ist die bei weitem häufigste untere Atemwegsinfektion bei Säuglingen. Bei eins bis zwei Prozent der Kleinkinder führt sie zur Spitaleinweisung infolge Atemnot sowie ungenügender Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme. Eine Impfung gibt es nicht. 
Quelle: BAG
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