«Ja, die Leute kamen vermehrt wegen Kleinigkeiten zu mir»

Der pensionierte Hausarzt Samuel Aebi bezweifelt, dass die Leute wegen der höheren Franchise weniger rasch zum Arzt gehen. Den Hauptgrund für sofortige Arztbesuche sieht er darin, dass Krankheiten heute als Störfaktor und nicht als Naturprozess betrachtet werden.

, 20. März 2019 um 20:25
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Herr Aebi, stimmt es, dass Patienten wegen Bagatellen den Hausarzt aufsuchen? 

Ja. In den knapp 40 Jahren meiner Praxistätigkeit konnte ich beobachten, dass die Leute zunehmend wegen Kleinigkeiten den Arzt aufsuchten.

Was sind das für Kleinigkeiten?

Das kann ein Schmerz sein im Gelenk, der plötzlich auftaucht - und schon ist man beim Arzt. Wenige Tage später ist der Schmerz von alleine weg. Früher machte man bei Halsschmerzen Wickel mit Wasser, Heilerde oder Antiphlogistin. Heute rennt man schon am ersten Tag gleich zum Arzt mit der Befürchtung, es könnte eine schwere Angina sein. Die Schwelle ist stark gesunken, besonders wenn es sich um Kinder handelt.

Sie behandelten auch Kinder?

Ja, Kinder und Erwachsene. Die Mütter kamen häufig  wegen Fieber ihrer Kinder schon am ersten oder zweiten Tag zu mir. Im Vergleich zu meiner Jugend hat sich das markant verändert. Ich war während meiner Kindheit vielleicht zweimal beim Arzt. Die bewährten Hausmittel, die einem von den Müttern mitgegeben wurden, gerieten zunehmend in Vergessenheit. Zudem hat sich auch die grundsätzliche Anschauung geändert.

Was meinen Sie damit?

Die Krankheit ist ein natürliches Geschehen mit einem zeitlichen Ablauf. Mit dem Fieber über 38 Grad kommt ein Prozess in Gang, bei welchem die Immunität angeregt wird. Häufig braucht es drei bis sieben Tage bis genügend Antikörper entwickelt sind, um die Krankheit zu überwinden. Man kann diesen Vorgang mit der Natur vergleichen: Legt man einen Samen in den Boden, kann man die Frucht nicht am folgenden Tag ernten. Man kann nicht sagen: Heute habe ich Fieber; morgen muss das weg sein.

Die Leute sind ungeduldiger geworden.

Man will die Zeit, die ein natürlicher Heilungsprozess beansprucht, ausschalten. Eine Krankheit wird heute nicht mehr als ein natürlicher Heilprozess angesehen, sondern als Störung, so ungefähr wie beim Auto: Geht etwas kaputt, flickt man es, am anderen Tag fährt es wieder.

Was sind Ihres Erachtens die Gründe, weshalb sich die Anschauung änderte?

Es gibt verschiedene Gründe. Zum Beispiel die Situation am Arbeitsplatz. Zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern hat sich zunehmend eine Misstrauenskultur entwickelt. Bleibt der Arbeitnehmer seiner Arbeit krankheitsbedingt fern, so wird der Chef schnell einmal misstrauisch. Er denkt sich, dass die Krankheit mit Hilfe des Arztes und der Einnahme von chemischen Medikamenten schnell in Griff zu bekommen sei, um die Arbeitsfähigkeit stark zu verkürzen.

Ein Arbeitszeugnis braucht man nach drei Krankheitstagen.

Die Bedingungen haben sich verschärft. Ich habe Fälle erlebt, da verlangte der Arbeitgeber schon bei einer Absenz von einem Tag ein Arztzeugnis. Also musste die Person den Arzt konsultieren, obschon das nicht nötig gewesen wäre. Gegenüber den 70er und 80er-Jahre hat sich das deutlich geändert. Ähnlich ist es übrigens bei Schulkindern.

Wie das?

Als ich zur Schule ging, da konnte man ohne schlechtes Gewissen problemlos eine Woche zu Hause das Bett hüten. Heute ist es so, dass die Lehrer häufig schon am ersten Tag Hausaufgaben nach Hause bringen lassen. Ein Blödsinn. Statt dass sich das Kind dank der Krankheit vom Schulstress erholen kann, wird es dauernd mit der Schule konfrontiert.

Was hat sonst noch zu dieser veränderten Anschauung geführt?

Die Leute sind ängstlicher geworden, geschürt durch blumige Aufklärungen der Ärzte und Medien über alle mögliche Komplikationen zum Beispiel bei Infektionskrankheiten, ihren Ansteckungsgefahren, tödlichen Ausgängen wie bei Grippewellen, Kinderkrankheiten. Die erzeugte Angst ist ein schlechtes Heilmittel, man weiss, dass durch Angst die Immunität herabgesetzt wird. Sie sagen sich: Es könnte ja auch mich treffen. Also geht man möglichst rasch zum Doktor. 
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    Samuel Aebi

    Jahrgang 1943, ist in Huttwil im Kanton Bern aufgewachsen, studierte Medizin in Bern und führte zwischen 1978 bis 2013 in Ittigen bei Bern eine Hausarztpraxis; ehe er in den zurückliegenden fünf Jahren nur noch langjährige Patienten betreute.

Als weiteren Grund sehe ich die Medikamentenvielfalt die in den letzten 50 Jahren extrem zugenommen hat. Das Medikamentenkompendium, über das ich während des Studiums verfügte, war etwa zwei Zentimeter dick. Später wurde es mindestens dreimal dicker. Und heute muss man alles im Internet verstauen, der Ausdruck wäre zu umfangreich und zu teuer.

Ich sehe jetzt auf Anhieb nicht, weshalb die Medikamentenvielfalt dazu führen soll, dass man häufiger und schneller zum Doktor geht.

Man hat mehr Möglichkeiten als früher. Es gibt eine ganze Palette von fiebersenkenden Arzneimitteln oder von Schmerzmitteln, die es in dieser Form früher nicht gegeben hat. Und wenn man möglichst schnell zur Arbeit zurückkehren muss und man weiss, dass Medikamente sofort wirken, geht man früher als sonst zum Arzt. Denken Sie auch an die inflationäre Verwendung von Antibiotika.

Dank der Antibiotika geht man früher zum Arzt?

Natürlich. Ich kann mich erinnern, dass zu Beginn meiner Arzttätigkeit Kinder zu mir gekommen waren, die wegen einer Ohrenentzündung zum fünften Mal innert kurzer Zeit ein Antibiotikum erhalten haben. Ich musste dann der Mutter erklären, dass mit der Einnahme des Antibiotikums zwar der Schmerz am Tag danach verflogen ist, dass aber das arme Kind die Antikörper gar nicht entwickeln konnte. So kommt die Entzündung immer wieder aufs Neue. Mit natürlicheren Mitteln liess sich Schmerz lindern, und mit etwas Geduld die Krankheit nachhaltig überwinden, die Ohrenschmerzen blieben weg.

Einer Ihrer Berufskollegen erzählt mir, dass auch die Einführung des Krankenkassenobligatoriums zu den von Ihnen geschilderten Verhaltensänderungen führte.

Das ist zweifellos der Fall. Ich habe wiederholt erlebt, dass Leute gegen Ende Jahr, wenn sie die Franchise bezahlt haben, noch von der «Vollkaskoversicherung» profitieren wollten. Sie liessen noch dieses und jenes abklären und wollten womöglich ihre Hausapotheke erneuern. Man sagt, die Krankenkassen seien eine soziale Einrichtung. Ich habe sie häufig als asozial erlebt.

Asozial? Das müssen Sie mir erklären.

Sozial wäre es, wenn man Prämien zahlt, sich an seiner Gesundheit erfreut und eine Genugtuung empfindet, mit den einbezahlten Prämien den Kranken zu helfen. Doch wenn die Leute gegen Ende Jahr noch möglichst viele ärztliche Leistungen zum Nulltarif konsumieren wollen, gewissermassen, um für die einbezahlten Prämien einen Gegenwert zu ergattern, so ist das in höchstem Masse asozial.

Nun wollen gewisse Politiker die Mindestfranchise erhöhen, damit Patienten nicht wegen jeder Kleinigkeit zum Arzt gehen.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Leute wegen der höheren Franchise weniger rasch zum Arzt gehen. Sie werden sich zwar eine Zeitlang darüber aufregen. Mit der Erhöhung der Franchise werden bloss die Kosten umverteilt. An der Einstellung, dass Krankheiten als Störfaktor und nicht als Naturprozess betrachtet werden, wird sich wohl kaum etwas daran ändern.

Nun doch keine Erhöhung der Franchise? 

Vor zwei Wochen hat sich eine Mehrheit im Ständerat dafür ausgesprochen, die Mindestfranchise bei der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) von 300 auf 350 Franken zu erhöhen. Medinise berichtete. Da der Nationalrat schon vorher im gleichen Sinne entschieden hatte, schien die Sache geritzt: die bürgerliche Mehrheit ist dafür; die linke Minderheit ist dagegen, die Schlussabstimmung zu Sessionsende schien zu einer Formsache zu werden.
Oder doch nicht? Völlig überraschend hat nun die SVP eine Kehrtwende beschlossen. Ihr Präsident Albert Rösti bestätigt, dass seine Fraktion in der Schlussabstimmung am Freitag die von beiden Räten beschlossene Franchiseerhöhung ablehnen werde.
Laut offizieller Lesart tut sie dies, weil sie eine Gesamtreform anpacken will, statt einseitig auf Kosten der Kranken zu sparen. Inoffiziell dürften wahlstrategische Überlegungen den Ausschlag fürs Umdenken gegeben haben. Die SVP wollte wohl verhindern, dass sich die Linken mit einem Referendum gegen die Erhöhung der Franchise im Wahljahr profilieren können. 
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