«Der Kanton Luzern prescht beim Gesundheitspersonal vor». Zu lesen ist diese Schlagzeile in diversen Zeitungen der Zentralschweiz. Will heissen, Fachleute im Gesundheitswesen werden dort früher geimpft als es das Bundesamt für Gesundheit (BAG) und die Eidgenössische Kommission für Impffragen (EKIF) ausgeheckt haben.
Laut BAG ist das Gesundheitspersonal mit Patientenkontakt erst in zweiter Priorität an der Reihe, also der Zielgruppe 2 zugehörend. Zur Zielgruppe 1 zählen grundsätzlich alle Personen über 65, wie auch Personen mit chronischen Krankheiten mit höchstem Risiko.
Gesundheitsfachpersonen stark exponiert
Physioswiss-Präsidentin Mirjam Stauffer kann nicht nachvollziehen, weshalb das Gesundheitspersonal mit direktem Patientenkontakt erst nach den gesunden Ü65 geimpft werden sollen. Das Alter als Hauptkriterium zu definieren sei problematisch, zumal Physiotherapeuten wie auch andere Gesundheitsfachpersonen mit direktem Kundenkontakt stark exponiert seien, eine Vorbildfunktion ausübten und erst noch häufig ältere Personen, eben Risikopatienten, behandeln würden.
Auch die Verantwortlichen im Kanton Luzern können diese Priorisierung offenbar nicht nachvollziehen. Denn gemäss der «Luzerner Zeitung» sind Bewohner und Angestellte von Altersheimen sowie das Personal aus Gesundheitsinstitutionen bereits vollständig geimpft. Die besonders gefährdeten Personen ab 65 Jahren seien aber erst Ende Mai so weit.
Angestellte vor Selbstständige
Irene Zemp ist Co-Präsidentin des Berufsverbands Physio Zentralschweiz. Sie sagt in der «Luzerner Zeitung»: «Viele Physiotherapeuten in Kliniken haben gemäss Vorgaben ihrer Arbeitgeber bereits eine Impfung erhalten, darunter im Luzerner Kantonsspital.» Selbstständige Physiotherapeuten oder Angestellte in einer Praxis hingegen müssten noch warten.
Die kantonalen Unterschiede findet Zentralpräsidentin Mirjam Stauffer unbefriedigend. «Im Kanton Waadt sind diverse meiner Kolleginnen und Kollegen mit eigener Praxis geimpft, im Kanton Bern warten selbst über 75-Jährige auf die erste Impfung». Und im Kanton Zürich seien die in Spitälern angestellten Physios geimpft. Das gelte auch für sie, sagt Mirjam Stauffer, die am Zürcher Universitätsspital angestellt ist.
Doch ihre Berufskollegen mit eigener Praxis konnten sich erst dieser Tage anmelden und erhalten die erste Impfung Ende April, Anfang Mai. «Die Kolleginnen und Kollegen mit eigenen Praxen haben genau so einen Kundenkontakt wie wir in den Spitälern», erklärt Stauffer weiter.
Physiotherapeuten gehören zu den am gefährdesten Berufen
Urs Keiser, Co-Präsident von Physioswiss Zentralschweiz, sieht das genau gleich. «Es geht ja bei uns Physiotherapeuten nicht primär darum, uns zu schützen, sondern um die Patienten zu schützen».
Er verweist zudem auf eine Studie aus den USA, bei der Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten bei den am höchsten gefährdeten Berufen an dritter Stelle figurierten, noch vor den Ärzten. Das rührt daher, weil sie überdurchschnittlich lange sehr nahe an den Patienten arbeiteten. «Es kommt oft vor, dass wir durch die Masken hindurch den Atem von Patienten spüren», sagt Keiser.
Die zehn Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten bei der Burch & Keiser in Sarnen konnten sich noch nicht impfen lassen. Laut Urs Keiser soll das in Bälde geschehen.
Noch etwas ist aber bis heute nicht klar: Offiziell muss man sich im Wohnsitzkanton impfen lassen, doch vier der zehn Therapeutinnen wohnen nicht in Obwalden. Kann sich also die im Kanton Bern wohnhafte Therapeutin nicht gleichzeitig mit ihren Kolleginnen impfen lassen? Muss sie warten, bis auch im Kanton Bern die Gesundheitsfachleute mit direktem Patientenkontakt an der Reihe sind?
Ertragsausfall: 95 Millionen
Ende März erklärte Physioswiss-Geschäftsführer Osman Besic
hier gegenüber Medinside, dass Physiopraxen für die ersten neun Monaten des zurückliegenden Jahres Ertragsausfälle von 95 Millionen Franken in Kauf nehmen müssten. Dies allein im Bereich, der von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) vergütet wird.
Der Verband der Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten verlangt deshalb eine neue Tarifposition «Schutzmassnahmenpauschale» für die temporäre Übernahme der tatsächlich anfallenden Kosten in Höhe von 3.95 Franken pro Behandlung». Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat diese Forderung laut Besic bisher «ohne stichhaltige Begründung» abgelehnt.