Demenz-Epidemie? Welche Demenz-Epidemie?

Vielleicht entpuppen sich all die Alzheimer-Warnungen und Demenz-Szenarien als Popanz. Denn neue US-Daten stellen fest: Die Demenz-Rate ist rückläufig. Europäische Daten besagen Ähnliches. Was zur wirklich wichtigen Frage führt: Woran liegt's?

, 11. Februar 2016 um 19:00
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Die Hinweise mehren sich: die Häufigkeit von Demenzerkrankungen in den Industrienationen schwindet. Ein aktuelles Beispiel für den rückläufigen Trend ist eine neue Langzeit-Studie aus den USA. 
Die Neurologin Sudha Seshadri vom Alzheimer's Disease Center der Universität Boston und ihr Team kommen zum Schluss: Demenz-Neuerkrankungen gingen seit 1997 in jedem Jahrzehnt um 20 Prozent zurück.

Von Epoche zu Epoche rückläufig

Die im Rahmen der bekannten «Framingham Heart Study» erhobenen Daten haben die Wissenschaftler nun im «New England Journal of Medicine» publiziert. Die Analyse umfasste über 5’000 Teilnehmer im Alter von 60 bis 101 Jahren. Berechnet wurde das Demenz-Risiko in vier Zeitabschnitten.

  • Im ersten Abschnitt (den späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahren) erkrankten 3,6 von 100 Teilnehmern an Demenz. 
  • Im zweiten Abschnitt (späte Achtziger-/frühe Neunzigerjahre) lag die Quote bei 2,8 von 100;
  • im dritten Abschnitt (späte Neunziger-/frühe Nullerjahre) erreichte der Wert 2,2;
  • und in den späten Nuller-/frühen 2010er-Jahren lag der Satz bei nur noch 2 Prozent.
Damit sank im Vergleich zum ersten Zeitraum die Demenz in der zweiten Periode um 22 Prozent, in der dritten um 38 und in der vierten um 44 Prozent.

Claudia L. Satizabal, Alexa S. Beiser, Vincent Chouraki, Geneviève Chêne, Carole Dufouil, Sudha Seshadri: «Incidence of Dementia over Three Decades in the Framingham Heart Study», in: «New England Journal of Medicine», Februar 2016.

Am deutlichsten waren die Rückgänge bei gefässbedingter Demenz. Auch bei Alzheimer bemerkten die Statistiker aus Boston tiefere Raten, allerdings waren die Zahlen hier nicht signifikant.
Die bislang gängige Befürchtung, dass die Demenzerkrankungen zu einer massiven Belastung des Gesundheitswesens werden, ja das ganze System aus den Fugen bringen könnten – diese Befürchtung gründete auf einer einfachen Formel: Je mehr alte Menschen, desto mehr Demenzerkrankungen. Doch das Verhältnis ist offenbar nicht dermassen linear.

Stablisierung auch in Europa

Dies besagte bereits im Sommer 2015 eine Studie, die am Cambridge Institute of Public Health erarbeitet worden war – mit Daten aus Europa. Analysiert wurden fünf grosse Kohortenstudien aus Schweden (2 Studien), den Niederlanden, Grossbritannien und Spanien. Ein Fazit: «Die Zahl der demenzkranken Menschen stabilisiert sich in einigen westeuropäischen Ländern. Dies betrifft sowohl die neuen Fälle als auch das Total der Erkrankungen», fasste die Cambridge University in ihrer Mitteilung zusammen.

Wu, Y-T et al.: «Dementia in western Europe: epidemiological evidence and implications for policy making», in: «Lancet Neurology», August 2015.

So litten im Jahr 2011 sogar relativ gesehen 22 Prozent weniger Men­schen über 65 Jahre an einer Demenz als im Jahr 1990. In der spanischen Stadt Saragossa kam es zwischen 1987 und 1996 bei den Männern sogar zu einem Rückgang um 43 Prozent. Bei den Frauen änderte sich die Prävalenz kaum. In den schwedischen Kohorten aus Stockholm und Göteborg sowie in der niederländischen Kohorte aus Rotterdam gab es in beiden Geschlechtern keine wesentlichen Veränderungen in der Zahl der Demenz­kranken.

Je besser gebildet, desto seltener dement

Was natürlich zur Frage führt: Was sind die Gründe? In der jetzt im «New England Journal of Medicine» veröffentlichten Untersuchung wurde der Trend zum Besseren nur bei jenen Menschen festgestellt, die mindestens über einen High-School-Abschluss verfügten. Das waren etwa 80 Prozent.
Die Diagnose einer Demenz verschob sich ausserdem zwischen 1977 und 2008 durchschnittlich um fünf Jahre «nach hinten».
Die Epidemiologen in Boston ziehen folglich als mögliche Ursache das höhere Bildungsniveau und den Rückgang von Risikofaktoren für Herz- und Gefässkrankheiten heran – etwa hohen Blutdruck und überhöhte Cholesterinwerte.

Hier wäre Prävention besonders viel wert

Und auch in Grossbritannien erklärte das Team um die Public-Health-Forscher Carol Brayne und Yu-tzu Wu ihre günstigeren Daten mit verbesserten Lebensbedingungen. Die Demenz ist eben nicht, wie in Öffentlichkeit und Gesundheitspolitik oft angenommen, ein genetisch bedingtes Schicksal. Eine wichtige Ursache sind Durchblutungsstörungen wegen einer Athero­sklerose der Blutgefässe im Gehirn – was sich etwa durch Behandlung oder Vermeidung von Risikofaktoren teilweise verhindern lässt.
Trotz höherer Lebenserwartung rechnen die Gesundheitsexperten deshalb eher mit einer Stabilisierung in der Zahl der Demenzkranken. Die Konsequenz wäre also: Es könnte sehr viel wert sein, die Prävention der Demenzerkrankungen zu fördern.
Bild: Neil Moralee, «No I can't remember», Flickr CC
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