«Durch Corona wird Magersucht zu Epidemie». Was die Hamburger Zeitung «Die Welt» am Dienstag schreibt, macht seit längerem die Runde, auch in der Schweiz. Wobei der Zusammenhang zwischen Corona und Essstörungen erst statistisch begründet ist; eine medizinische Kausalität konnte noch nicht bewiesen werden.
So stellt die deutsche Krankenkasse DAK-Gesundheit für 2020 eine Zunahme von Krankenhaus-Behandlungen aufgrund von Essstörungen von 9 Prozent im Vergleich zum Vorjahr fest. Bei den U17 sollen es sogar 13 Prozent sein. Wobei prozentuale Zunahmen ohne Angaben der Basiswerte wenig bis nichts aussagen: Zwei gegenüber eins entspricht auch einer Zunahme von 100 Prozent.
Immer mehr magersüchtige Patientinnen
Aussagekräftiger ist Patrick Nonell, Chefarzt in der Nürnberger Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter. Er hat seit Beginn der Pandemie zunehmend mit magersüchtigen Patientinnen zu tun. «Es sind eineinhalb bis zweimal so viele wie vor der Pandemie», wird der ärztliche Leiter in «Die Welt» zitiert.
Den wahren Grund kennt aber auch er nicht, nur die Vermutung, dass gerade Mädchen, die an Magersucht erkrankten, den Stress oft nicht so gut verarbeiten könnten. In der Pandemie litten sie besonders stark unter der Verunsicherung und der Sorge, die Kontrolle zu verlieren. «Ihr Essverhalten zu kontrollieren, ist eine Form Bewältigungsstrategie, um wieder mehr Kontrolle zu bekommen.»
Auffallend junge Mädchen
Andere Experten weisen auf den Umstand hin, dass in den Beratungsstellen zunehmend auffallend junge Mädchen auftauchten, teilweise unter zehn Jahre alt. Das hänge damit zusammen, dass heute die Pubertät früher einsetze.
Die früher einsetzende Pubertät könne dazu führen, dass die körperliche Reife möglicherweise nicht kompatibel mit der psychischen Reife sei, meint Silja Vocks, Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Osnabrück.
Und dann natürlich die sozialen Medien. Dass Instagram und andere soziale Netzwerke für Pubertierende problematische Auswirkungen haben können, war schon vor Ausbruch der Pandemie bekannt. Die Corona-Krise hat das Problem nur noch verschärft.
Modeverkäuferin wurde rückfällig
In der Schweiz ist die Zunahme von Anorexie wiederholt thematisiert worden, auch im Schweizer Fernsehen. Vor knapp einem Jahr zeigte die SRF-Sendung Forward den Fall einer magersüchtigen Modeverkäuferin, wie sie während der Pandemie rückfällig wurde.
Alle von SRF kontaktierten Anlauf- und Beratungsstellen bestätigten, dass sich nicht nur die Zahl der Anfragen erhöhte, sondern dass die Beratungen sind verändert hätten.
Sarah Stidwill von der Arbeitsgemeinschaft Ess-Störungen AES erklärte in der Sendung, sie hätten mehr Anfragen von Menschen mit Verläufen, die sich innerhalb weniger Wochen verschlechterten. «Aber auch die Verzweiflung: Leute, die gemeint haben, sie hätten es geschafft und jetzt wieder voll in der Krankheit drin sind.»