Den Spitälern geht es finanziell schlecht. Das hängt nicht nur mit ungenügenden Tarifen und mit hausgemachten Management-Problemen zusammen, sondern auch mit einem fundamentalen konzeptionellen Fehler in der Spitalfinanzierung.
Die Gesundheitsversorgung in der Schweiz und vielen anderen Ländern ist nicht als Markt organisiert, denn ein Markt ist ein Ausschlussverfahren. Über Prozesse der freien Preisbildung werden Marktteilnehmer ausgeschlossen:
- Wer als Nachfrager nicht zahlen möchte oder nicht zahlen kann, wird vom Konsum ausgeschlossen.
- Wer als Anbieter nicht kostendeckend anbieten kann, wird vom Markt als ineffizienter Produzent eliminiert.
In diesem Sinne disziplinieren (funktionierende) Märkte sowohl den Konsum als auch die Produktion.
Johannes Rüegg-Stürm ist Professor für Organization Studies an der Universität St. Gallen und Experte für Management im Gesundheitswesen. Seit fast 20 Jahren leitet er das CAS-Programm für Systemisches Management im Gesundheitswesen und fördert die Weiterbildung von Fach- und Führungskräften.
Im Bereich der Gesundheitsversorgung werden, zumindest in der Grundversorgung auf Basis des KVG, marktbasierte Verfahren einer effizienten Ressourcenallokation als unethisch beurteilt. Denn Gesundheit ist ein existenzielles Gut, und die Gesundheitsversorgung ist existenzrelevant – keineswegs vergleichbar mit Gütern des Alltags.
- Niemand – also kein kranker Mensch als Nachfrager – soll wegen mangelnder ökonomischer Leistungsfähigkeit von der Gesundheitsversorgung ausgeschlossen werden.
- Dasselbe galt auf der Basis von Leistungsaufträgen bis vor kurzem auch für Spitäler als Anbieter von Gesundheitsleistungen.
Inzwischen nimmt aber der Selektionsdruck stark zu. Die verhandelten Tarife reichen nicht aus, die Kosten zu decken. Bei «systemrelevanten» Versorgungsanbietern springt die öffentliche Hand mit Liquiditätszuschüssen oder günstigen Darlehen ein – wenn sie nicht schon lange (wie vor allem in der Romandie) über verdeckte Transferzahlungen oder die grosszügige Abgeltung gemeinwirtschaftlicher Leistungen stützend eingesprungen ist.
Faire Selektionsbedingungen?
Eigentlich sind wir uns bewusst: Dieser Selektionsdruck ist notwendig und vom Gesetzgeber ursprünglich gewollt. Allerdings stellt sich die Frage, ob erstens die Selektionsbedingungen für alle gleich und damit fair sind. Und zweitens stellt sich die Frage, ob wirklich die «richtigen» – heisst ineffektiven und ineffizienten – Spitäler auf diese Weise eliminiert werden. Dabei wäre vielleicht auch einmal zu fragen, was ein solcher «Shake out process» mit den tätigen Gesundheitsfachleuten und vor allem mit den Patientinnen und Patienten macht …
«Die Kosten für Bereitschafts- und Vorhalteleistungen nehmen in der Tendenz zu, weil die dazu erforderliche Infrastruktur immer teurer wird.»
In der Gesundheitsversorgung fehlen bis heute Prozesse eines geordneten Rückzugs. Dies hängt auch damit zusammen, dass das Gesundheitswesen durch die Politik permanent missbraucht wird – für Arbeitsmarktpolitik, für Regionalpolitik und für Prestigeprojekte aller Art.
m Jahr 2012 wurden in der Schweiz im stationären Bereich über eine KVG-Revision Fallpauschalen (DRG) eingeführt. Diese repräsentieren administrativ-tariflich festgelegte Marktpreissurrogate, die in der Lage sein müssen, die gesamten Kosten eines Spitals einschliesslich der Kosten für die langfristige Substanzerhaltung abzudecken. Als Kenngrösse dient dazu der Ebitda, der eine Höhe von 8 bis 10 Prozent der Umsatzerlöse erreichen müsste, damit ein Spital nicht auf Kosten der Zukunft lebt.
Unterschiedliche Kosten-Arten
Aus Sicht eines Spitals decken DRG jedoch zwei völlig unterschiedliche Arten von Kosten ab: das eine sind Kosten, die mit den Vorhalteleistungen zu tun haben, Strukturkosten oder Fixkosten. Wenn sich ein Spital entscheidet (bzw. wenn die Politik es verlangt), einen 24-Stunden-Notfall, eine Geburtsklinik oder eine Dialyse-Station zu betreiben, ist dazu eine Bereitschaftsleistung erforderlich – völlig unabhängig davon, ob diese von einem oder mehreren Patientinnen und Patienten in Anspruch genommen werden muss.
Die Kosten für diese Bereitschafts- und Vorhalteleistungen nehmen in der Tendenz zu, weil die dazu erforderliche Infrastruktur (Gebäude, Ausrüstung, Medizintechnik, usw.) immer teurer wird. Dazu kommen die Lohnkosten für hoch qualifiziertes Personal sowie Arbeitszeitmodelle, die aufgrund eines veränderten Arbeits- und Lebensverständnisses heutiger Menschen mit deutlich höheren Planungs- und Koordinationskosten verbunden sind.
Was die Kausalität betrifft, hängen die Strukturkosten stark von Grundentscheidungen des Leistungsangebots, der bereitgestellten Kapazität und den damit verbundenen Investitionsentscheidungen zusammen. Wenn sie einmal getroffen sind, binden sie – wie beispielsweise Entscheidungen der Gebäudeinfrastruktur – ein Spital auf lange Frist.
Die andere Kostenkomponente sind Leistungskosten oder proportionale Kosten. Sie hängen mit der Anzahl und der Art konkreter Behandlungen zusammen. Kausal sind sie stark von den Behandlungsentscheidungen der Gesundheitsfachleute abhängig.
Leistungsoptimierung
Nun sind Spitäler nicht frei in ihrem Tun. Erstens bestehen Leistungsaufträge. Zweitens ist es – völlig ungleich zur übrigen Wirtschaft – ethisch äusserst fragwürdig, den Umsatz über die mengenmässige Verschreibung von unnötigen Behandlungen nach oben zu treiben, indem man «angebotsinduzierte Nachfrage» schafft (was leider vielerorts der Realität entspricht).
Selbstverständlich ist es legitim, über eine exzellente Qualität und Reputation möglichst viele Patientinnen und Patienten aus dem eigenen und benachbarten Versorgungsgebieten zu gewinnen. Das aktuelle Finanzierungssystem setzt aber nicht nur dafür Anreize, sondern auch Anreize für Mengenausweitungen (angebotsinduzierte Nachfrage), welche die behandelnden Personen in ein schweres Dilemma bringen können.
«Die Geburtskosten eines Ospidal Scuol können niemals mit den Geburtskosten eines Spitals Zollikerberg verglichen werden.»
Für Patientinnen und Patienten wäre es oft besser, auf die eine oder andere Behandlung, auf das eine oder andere Medikament zu verzichten. Das Thema «Überversorgung» anzugehen, ist für die Anbieter von Gesundheitsleistungen eine heikle Herausforderung.
Aus Sicht des finanziellen Erfolgs unterliegen die behandelnden Personen tendenziell immer stärker dem Druck, mehr Leistungen anzubieten. Das trifft sich gut mit steigenden Erwartungen von Patientinnen und Patienten, die oft aufgrund von Unwissen von ihren behandelnden Personen eine «Maximalversorgung» einfordern, nach dem Motto: «Mehr ist immer besser – und: Es kann nicht genug teuer sein, ich bezahle ja schliesslich meine Krankenkassenprämien nicht umsonst.»
Strukturkosten variieren stark
Weshalb unterliegen die behandelnden Gesundheitsfachpersonen tendenziell immer stärker dem Druck, mehr Leistungen anzubieten?
In der aktuell heiklen finanziellen Lage vieler Spitäler werden immer wieder finanzielle Vergleiche von Kliniken vorgenommen – sei es spitalintern oder spitalübergreifend. Solche Vergleiche sind sehr heikel, weil sie nicht notwendigerweise einen Indikator der Organisationsqualität und Effizienz einer Klinik darstellen. Vielmehr sind solche Vergleiche mit äusserster Vorsicht zu betrachten.
Denn viele Spitäler und Kliniken sind mit völlig unterschiedlichen Auflagen, demographischen Entwicklungen und geographischen Eigenheiten konfrontiert, was enorme Auswirkungen auf die Bereitschafts- und Vorhalteleistungen nach sich ziehen kann.
Die Geburtskosten eines Ospidal Scuol können niemals mit den Geburtskosten eines Spitals Zollikerberg verglichen werden. Die einheitliche Finanzierung über DRG postuliert aber genau dies: Dass eine Geburt grundsätzlich überall genau gleich viel kosten können soll. DRGs blenden damit die Problematik der unterschiedlichen Entscheidungen, Entscheidungsträger und der damit verbundenen Kausalitäten, was die Kostentreiber für die Bereitschaftsleistung und die Kostentreiber für Behandlungsleistungen angeht, vollkommen aus.
Was wäre zu tun?
Was wäre zu tun? Die Wertschöpfung eines Spitals müsste durch zwei unterschiedliche Finanzquellen entschädigt werden: durch Vorhaltepauschalen und durch Leistungspauschalen.
Die Vorhaltepauschalen umfassen Entgelte für die Bereitschaftsleistungen, die mit den Leistungsaufträgen pro Behandlungsart bzw. Behandlungsspektrum verbunden sind, d.h. mit der Bereitstellung von Behandlungskapazität.
Dahinter stecken drei zentrale Kapazitätskomponenten: Qualität(z.B. Technologie-Infrastruktur, Fähigkeitsanforderungen der Gesundheitsfachpersonen), Menge (Anzahl Behandlungen pro Zeiteinheit) und zeitliche Verfügbarkeit/Abrufbarkeit der Behandlungen (z.B. 8 Stunden oder 24 Stunden). Die Vorhaltepauschalen im Sinne von Fixkostenbeiträgen wären durch sorgfältige, erfahrungsbasierte Benchmarks zu ermitteln – ähnlich wie heute die DRGs berechnet werden.
«Ein Finanzierungssystem mit zwei unterschiedlichen Geldquellen würde die Kosten von Gesundheitsanbietern viel verursachungsgerechter abgelten.»
Die Leistungspauschalen sind dagegen mengenmässige Entgelte für die unmittelbar verursachten Kosten konkret erbrachter Leistungen. D.h. die Leistungspauschalen sind vergleichbar mit den heutigen DRGs. Allerdings fallen sie viel tiefer aus, weil sie keine Bereitschaftskosten (Fixkosten) mehr abdecken müssen, welche durch die Vorhaltepauschalen gedeckt werden.
Ein solches Finanzierungssystem würde die Kosten von Gesundheitsanbietern viel verursachungsgerechter abgelten. Alles, was sich die Politik wünscht, was sie verlangt und auch verbindlich bestellt, müsste unmittelbar mit Vorhaltepauschalen abgedeckt werden. Nicht einfach: «Wer zahlt, befiehlt», sondern «Wer bestellt, muss auch zahlen!»
Die Wirkung von «Prestigeprojekten» würde für die Politik auf diese Weise sehr viel schneller abschätzbar und transparent. Umgekehrt sinkt der Anreiz für die Gesundheitsfachpersonen aufgrund des Budgetdrucks mengenmässig unnötige Behandlungen zu verschreiben, weil die Leistungspauschalen viel kleiner wären als die heutigen DRGs.
Konsequenzen einer Neukonzeption
Ein solcher Systemwechsel hätte auch Konsequenzen für die Konzeption von REKOLE (Kosten- und Leistungsrechnung der Spitäler). Die sachlich problematische Vollkostenrechnung müsste abgelöst bzw. ausdifferenziert werden in ein Kostenrechnungssystem, das systematisch zwischen Leistungs- und Strukturkosten (proportionalen und fixen Kosten) unterscheidet und mit verursachungsgerechten Deckungsbeiträgen arbeitet.
Verursachungsgerecht bedeutet, dass Kosten für die Bereitstellung von Vorhalteleistungen (Fixkosten) nicht mehr auf einzelne Behandlungen «umgelegt» werden dürften. Damit würde es unvermittelt möglich, die Geburtskosten (= Leistungskosten) eines kleinen Engadiners im Ospidal Scuol mit den Geburtskosten eines kleinen Pfannenstieler Erdenbürgers zu vergleichen.
Ein solches System wäre konzeptionell logischer, transparenter, besser nachvollziehbar und würde als fairer wahrgenommen. Es wäre viel verantwortungsgerechter, denn die behandelnden Gesundheitsfachpersonen können in den allermeisten Fällen nichts für völlig überhöhte Infrastrukturkosten. Ein Paradebeispiel ist das Universitätskinderspital Zürich, wo Gesundheitsfachpersonen als Folge problematischer Strukturentscheidungen unter die Räder eines extremen Kostendrucks kommen.
Die Politik wiederum, die letztlich für die Planung der Gesundheitsversorgung und damit für die Festlegung von Bereitschaftsleistungen zuständig ist, könnte und müsste auf diese Weise ihre Entscheidungen viel stärker versorgungs- und kapazitätsorientiert an den existenziellen Bedürfnissen der Bevölkerung ausrichten. Ausgangspunkt wäre eine geographisch sinnvoll angesiedelte, hochwertige Notfallversorgung, die Bürgerinnen und Bürger in Notlagen nicht allein lässt, sondern rasch überlebensrelevante Hilfe und danach eine optimale Behandlung garantieren müsste.
Aus Sicht der Managementforschung wäre es höchste Zeit, dass nach Efas auch ein gesundheitspolitischer Diskurs zu einer sinnvolleren Konzeption der Spitalfinanzierung lanciert würde.