Wenn der Bundesrat im September die Prämien für das folgende Jahr verkündet, folgt danach stets dasselbe Ritual: Einige Wochen lang melden sich Politiker, Experten und Gesundheitsprofis mit Vorschlägen, wie die Prämien zu dämpfen und die Kostenexplosion im Gesundheitswesen zu vermeiden wäre.
Das Problem beginnt schon beim Begriff «Kostenexplosion». Eine Explosion ist ein kurzes, heftiges, zerstörerisches Ereignis. Was wir aber haben, sind stetig steigende Kosten um 3 bis 4 Prozent pro Jahr. Das ist eine Herausforderung, aber keine Explosion, und es gibt gute Gründe dafür: demografische Entwicklung, medizintechnischer Fortschritt, steigende Nachfrage.
Felix Schneuwly ist Head of Public Affairs beim Vergleichsdienst Comparis und Präsident des Bündnisses Freiheitliches Gesundheitswesen. Zuvor war er unter anderem Delegierter für Public Affairs bei Santésuisse.
Als Lösung gegen die herbeigeredete «Explosion» sehen die herbstlichen Ideengeber dann gern noch mehr Staat. Sie ignorieren damit die Dynamik. Staatliche Gesundheitssysteme werden träge und ineffizient. Weil nicht beliebig Geld ins System gepumpt werden kann, wird rationiert. Rationierung ist aber nicht nur für die Patienten schlecht, sondern auch fürs Personal, das die Patienten nicht mehr medizinisch sinnvoll behandeln kann.
Und natürlich wird jeden Herbst wieder die Forderung nach einer Einheitskrankenkasse durchs Land gezogen.
In diesem Jahr kann man die gängigen Vorschläge gebündelt nachlesen, nämlich in einem Buch von Andreas Kistler. «Die Kostenexplosion im Gesundheitswesen: Wie das System zum Patienten wird», lautet der Titel des Sachbuchs, das jüngst viel Medienpräsenz mit zu wenig kritischen Fragen erhalten hat.
Und die Qualität?
Andreas Kistler, Chefarzt Innere Medizin am Kantonsspital Frauenfeld, vergleicht darin Kanada mit den USA: Kanadas staatliches Gesundheitswesen kostet 11 Prozent des BIP – die mehrheitlich private Gesundheitswirtschaft der USA verschlingt mit 18 Prozent weltweit am meisten. Was dem Autor als Argument für ein staatlicheres Gesundheitssystem dient.
Er blendet aus, dass es im US-Gesundheitswesen von sehr gut bis katastrophal alles gibt, und dass die Schweiz ein Mischsystem hat, das uns gut 11 Prozent des BIP kostet: Es liegt also näher bei Kanada als bei den USA.
Zugleich unterschlägt Kistler, dass Versorgungsqualität und Zugang in Kanada und anderen Ländern mit etatistischen Systemen schlechter sind als in der Schweiz: Individuelle Präferenzen werden weniger berücksichtigt und die Menschen müssen länger auf ihre Behandlung warten.
«Die Gegner des heutigen Systems behaupten, mehrere Kassen brächten keinen Nutzen, liefern aber keine Belege.»
Auch die Behauptung, staatliche Organisationen seien effizienter, ist empirisch nicht belegt. Es gibt ineffiziente staatliche und ineffiziente private Systeme. Das hiesige Gesundheitswesen ist ein gutes Beispiel für hybride Effizienz. Dänemark gilt als Musterknabe, hat aber eine sehr homogene Bevölkerung, die dem Staat grosses Vertrauen entgegenbringt. Die knappe Abstimmung über die E-ID hat einmal mehr gezeigt, wie kritisch die Schweizer Bevölkerung gegenüber staatlichen Instrumenten ist.
Der Glaube an staatliche Effizienz steht auch hinter dem politischen Dauerbrenner der Einheitskasse. Die Gegner des heutigen Systems behaupten, mehrere Kassen brächten keinen Nutzen; sie liefern aber keine Belege. Sie verweisen vielleicht auf die Verwaltungskosten, doch die betragen knapp 5 Prozent der Prämien. Einsparungen von mindestens 10 Prozent, wie sie laut einer Comparis-Umfrage die Einheitskassenbefürworter fordern, sind also schlicht nicht möglich.
Und im Gegensatz zur Einheitskasse Invalidenversicherung sind die Krankenkassen nicht verschuldet.
Machen wir den Test!
Angesichts der hohen Zustimmung zur Einheitskasse in den jüngsten Umfragen schlage ich vor, das Modell in einem Kanton zu testen und mit dem Kassenwettbewerb im Rest der Schweiz zu vergleichen, bevor wir zum fünften Mal darüber abstimmen. Dann merkt man vielleicht auch, dass Wettbewerb die Servicequalität und die Innovation bei den alternativen Versicherungsmodellen stärkt.
Eine weitere Idee von Andreas Kistler ist die Abschaffung der Fallpauschalen zugunsten von Pauschalbudgets. Nur: In anderen Ländern haben Globalbudgets oft zu Rationierung oder Wartelisten geführt. Chefarzt Kistler sagt offen, dass Rationierung nötig sei. Politisch ist das ehrlich, aber heikel: Denn real kündigt er damit Wartezeiten, Einschränkungen und Zweiklassenmedizin an.
«Natürlich kann man kritisieren, dass Geld die intrinsische Motivation korrumpiere. Das stimmt teilweise, darf uns aber nicht zu Naivität verleiten.»
Ein Grundproblem liegt laut Kistler – und vielen anderen – in der Ökonomisierung: Diese pervertiere das System. «Unsere Arbeit wird zunehmend durch eine ökonomische Rationalität diktiert, die der Kernaufgabe des Gesundheitswesens nicht gerecht wird»,
schreibt er.
Auch das ist eine Übertreibung: Ökonomische Steuerung bringt Fehlanreize, aber ohne ökonomische Prinzipien (Effizienz, Kostenbewusstsein) gäbe es kaum Kostendruck, was bei genügend Ressourcen zu Verschwendung führen würde – und bei zu wenig Ressourcen zu willkürlichen Rationierungen.
Die Ökonomie ist die Lehre der Zuteilung von Ressourcen. Da in jedem System die Ressourcen beschränkt sind, ist die Ressourcenallokation mit den richtigen Anreizen wichtig.
Natürlich kann man kritisieren, dass Geld die intrinsische Motivation korrumpiere. Das stimmt teilweise, darf uns aber nicht zur Naivität verleiten, Geld dürfe im Gesundheitswesen keine Rolle spielen. Die KVG-Grundsätze Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit sowie transparente Qualität bieten einen guten Rahmen für eine optimale Ressourcenallokation.
Andreas Kistler weist in seinem Buch darauf hin, dass Prämien stärker steigen als die KVG-Gesamtkosten, weil die prämienfinanzierten Anteile (Ambulantisierung, erweiterter Leistungskatalog) stärker zunehmen als die steuerfinanzierten (Prämienverbilligungen von Bund und Kantonen, kantonale Beiträge an stationäre Leistungen). EFAS wird dieses Problem entschärfen.
Auf der anderen Seite schafft das DRG-System tatsächlich Anreize zu Mengenausweitung und Auslastung der teuren Infrastruktur. Dieser Kritikpunkt ist empirisch auch bei Einzelleistungstarifen belegt, weil sie nur Mengen berücksichtigen und Effizienz sowie Qualität ignorieren.
Mehr Spielraum für die Vertragspartner der alternativen Versicherungsmodelle (AVM) wäre wirksamer als Kostenziele und Kostenmonitoring. Kostenziele nützen lediglich in den AVM mehr als sie schaden, weil dort Unternehmen als Vertragspartner, die Kosten- und die Qualitätsverantwortung tragen.
Ein echtes Problem erkennt Kistler in der Bürokratie beziehungsweise bei den «Bullshit Jobs». Der administrative Aufwand ist tatsächlich eine messbare Quelle von Frustration und Kosten – aber er ist auch die Folge von zu viel falscher Regulierung. Leider verlangt Andreas Kistler noch mehr falsche Regulierung.