Pädokriminalität im OP: Das Gesundheitssystem des Schweigens

In Frankreich beginnt der Prozess gegen einen Chirurgen, der in Spitälern hunderte Minderjährige sexuell missbraucht hat. Es geht dabei auch um die Verantwortung im ganzen Gesundheitssystem.

, 24. Februar 2025 um 14:55
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..Bild: Screenshot TF1.
In Frankreich begann an diesem Montag der Prozess gegen einen ehemaligen Chirurgen, der des sexuellen Missbrauchs von fast 300 Patientinnen beschuldigt wird – von denen die grosse Mehrheit zum Zeitpunkt der Tat minderjährig war. Der Prozess, der vor einem Strafgericht in der Bretagne stattfindet und bis Juni 2025 dauern dürfte, wird mittlerweile als der grösste Fall von Pädokriminalität im Nachbarland angesehen.
Dem Arzt droht eine Höchststrafe von 20 Jahren Zuchthaus. Er hat seine Beteiligung an den meisten vorgeworfenen Taten zugegeben; sie fanden zwischen 1989 und 2014 in einem Dutzend Spitälern statt. Fast dreissig Jahre lang hielt der Angeklagte Name, Alter und Adresse seiner Opfer sowie eine detaillierte Beschreibung des Missbrauchs in Tagebüchern fest.

Gefühl der Straflosigkeit

Wie war es möglich, dass solche Handlungen so lange fortgesetzt werden konnten? Im Verfahren gab der Angeklagte zu, dass seine Funktion es ihm ermöglicht habe, «diese schändlichen Taten zu begehen».
Es begann im Familienkreis des ehemaligen Chirurgen Joël Le Scouarnec, wo pädokriminelle Handlungen in einem Klima der Omertà verschwiegen wurden. Dann weitete es sich auf den Spitaldienst aus. So soll der Arzt Patienten und Patientinnen im Alter von 3 bis 11 Jahren missbraucht und dabei die Wirkung der Anästhesie ausgenutzt haben.
2005 wurde er wegen Besitzes kinderpornografischer Bilder verurteilt: Er erhielt vier Monate Haft auf Bewährung – ohne Pflicht, sich behandeln zu lassen. Und ohne nachfolgende Einschränkungen bei der Ausübung ärztlicher Tätigkeiten.
Danach erhielt Le Scouarnec eine Stelle in einem neuen Krankenhaus. Obwohl der Chirurg sein Vorstrafenregister nicht erwähnt hatte, kam der Fall schliesslich ans Licht und ein Psychiater informierte den Leiter der Einrichtung.
Im Schreiben an den Direktor wurden weitere beunruhigende Elemente erwähnt: Der Arzt hatte sich vehement für einen Kollegen eingesetzt, der wegen sexueller Übergriffe und Vergewaltigung angeklagt war; dieser wurde später zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt. Und er hatte bestimmte Operationsschritte mit sexuellen Begriffen beschrieben.
Zur Rede gestellt, weigerte sich Le Scouarnec, sein Amt niederzulegen, und behauptete, niemand könne ihn dazu zwingen.
«Es liegt an jedem Zeugen und erst recht an jedem Fachmann, der in einer Gesundheits-, Verwaltungs- oder Justizeinrichtung Verantwortung trägt, zu handeln.» – Unabhängige Kommission zu Inzest und sexueller Gewalt gegen Kinder.
Nach der Aussage eines anderen Kollegen wurde die Ärztekammer des Departements Morbihan alarmiert und Le Scouarnec 2006 zu einem Gespräch vorgeladen. Der Direktor des Spitals schrieb daraufhin, er habe nur «vage Informationen über die vorgeworfenen Tatsachen» und lobte den Chirurgen als «ernsthaften und kompetenten Spitalpraktiker», dessen «Ankunft es ermöglicht hat, die Einrichtung aus einer schweren Krise herauszuführen, die durch den massiven Weggang von Krankenhauspraktikern im Jahr 2001 ausgelöst worden war».
Le Scouarnec praktizierte in Quimperlé bis zur Schliessung der chirurgischen Abteilung im Jahr 2007; dann zog er weiter in ein Spital in der Charente-Maritime, wo ebenfalls Personalmangel herrschte. Die Direktorin erinnerte daran, dass es in den 2005 verhandelten Pornographie-Vorwürfen keinen «körperlichen Angriff» gegeben hatte, und verzichtete auf besondere Massnahmen.
«Es gab keine neuen Elemente, keine Berichte von Opfern oder der Spital-Gemeinschaft», erklärte der Vizepräsident der Ärztekammer des Departements, Jean-Marcel Mourgues.
Im Nachhinein erklärte der Chirurg, er habe sich «unantastbar» gefühlt – ein Gefühl, das laut Francesca Satta, der Anwältin mehrerer Nebenkläger, zeigt, wie sehr die Passivität der Krankenhausbehörden mitschuldig war: «Man kann nicht 30 Jahre lang ungestraft bleiben, ohne dass jemand etwas merkt!».
Bis zur Aufdeckung schwerwiegender Fakten im Jahr 2017 habe Le Scouarnec weiter praktiziert. Der Chirurg wurde 2020 zum ersten Mal verurteilt, nachdem eine sechsjährige Nachbarin seine Taten angezeigt hatte.

Eröffnung eines langen Prozesses

Nach vier Jahren Ermittlungsverfahren wird der ehemalige Chirurg wegen Vergewaltigung und schwerer sexueller Gewalt an 299 Patienten, in einem bisher unbekannten Ausmaß vor Gericht gestellt. Die Ärzteschaft – konkret: der Conseil national de l'Ordre des médecins – tritt bei der nun eröffneten Gerichtsverhandlung als Nebenklägerin auf. Die Erklärung dazu: «Wir hoffen sehr, dass dieser Prozess im Anschluss an die Ermittlungen Licht in das Dunkel der begangenen abscheulichen Verbrechen bringen wird und dass die Justiz eine exemplarische Verurteilung aussprechen wird, die den vorgebrachten Tatsachen entspricht.»
Der Conseil bekräftigt ausserdem, dass «eine rechtskräftige Verurteilung wegen bestimmter Verbrechen und Vergehen, insbesondere wegen Straftaten an Minderjährigen im Zusammenhang mit Pädokriminalität, ein Hindernis für die Ausübung der ärztlichen Tätigkeit darstellen sollte.»
Die für Mai geplante Anhörung von mehreren ehemaligen hochrangigen Mitarbeitern von Spitälern und Gesundheitsdiensten wird zum Thema machen, dass viele in der Branche bereits 2005 über das Vorstrafenregister des ehemaligen Chirurgen informiert worden waren. Die Unabhängige Kommission zu Inzest und sexueller Gewalt gegen Kinder betont: «Pädokriminelle Karrieren werden nicht durch Monster, sondern durch das sukzessive Schweigen aller Zeugen aufgebaut».
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