Die Invaliden-Versicherung (IV) möchte mehr öffentliche Spitäler für Begutachtungen gewinnen. Sie verspricht sich davon mehr Qualität, mehr Unabhängigkeit und mehr Akzeptanz der Gutachten.
Doch bei den Spitälern ist das Interesse gering. Ein Grund dafür ist, dass medizinische Gutachten nicht zum Kernauftrag eines Spitals gehören. Ralf Kocher, der zuständige Bereichsleiter beim Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV), hat Verständnis: «Es kann sehr schwierig sein, die Verfügbarkeit der einzelnen Sachverständigen mit den Tätigkeiten in einem Spital – zum Beispiel mit Notfällen – zu koordinieren.» Eventuell sei auch die Entschädigung nicht genug hoch, besonders bei Sachverständigen in seltenen Fachdisziplinen.
Grundsätzlich sei bei den Spitälern der Wille für eine Gutachtertätigkeit aber schon da, erklärt Ralf Kocher. Nur zeige das Beispiel des Genfer Universitätsspitals (HUG), dass es der Spitalbetrieb offenbar kaum zulasse, genügende Ärztinnen und Ärzte für die Gutachtertätigkeit zur Verfügung zu stellen. Die Gutachterstelle des HUG erstellte letztes Jahr nur zehn Gutachten, bei denen mehrere Fachdisziplinen einbezogen waren.
«Musterbeispiel USB»
Derzeit sind nur vier öffentliche Spitäler als Gutachterstellen für die IV tätig: Neben dem HUG sind dies noch das Universitätszentrum für Allgemeinmedizin und öffentliche Gesundheit in Lausanne, das Regionalspital Bellinzona und das Universitätsspital Basel (USB) mit seiner Asim-Gutachterstelle. Diese ist für Rolf Kocher das «Musterbeispiel für eine sehr gute Einbettung einer Gutachterstellen in ein Universitätsspital».
Insel gab ihre Begutachtung auf
Bis Ende 2011 gab es im Berner Inselspital die Medizinische Abklärungsstelle Medas, die 300 bis 600 polydisziplinäre IV-Gutachten pro Jahr erstellte und damit auch einen kleinen Gewinn erwirtschaftete. Dann wurde Medas geschlossen. Offiziell deshalb, weil es nicht zum Kernauftrag eines Universitätsspitals gehöre, IV-Gutachten zu erstellen.
Doch soll sich die Spitalleitung auch vor schlechter Presse gefürchtet haben. Dieses Risiko besteht. Fragwürdige Entscheide aufgrund von Gutachten in komplizierten IV-Fällen tauchen oft in den Medien auf.
Deshalb wünscht sich die IV mehr Gutachten von öffentlichen Spitälern
- Unabhängigkeit: Öffentliche Spitäler sind wirtschaftlich kaum von Gutachtenaufträgen abhängig. Dies reduziert potenzielle Interessenkonflikte.
- Praxisbezug: Gutachter in Spitälern sind in den klinischen Alltag eingebunden, was eine praxisnahe und fundierte Beurteilung ermöglicht.
- Fachwissen: Universitätsspitäler und grössere Kliniken haben Zugang zu den neuesten medizinischen Erkenntnissen und können das in die Gutachten einfliessen lassen.
- Breite Abdeckung: Spitäler haben viele medizinische Fachbereiche und können auch bei seltenen Krankheitsbildern auf Spezialisten zurückgreifen.
- Förderung des Nachwuchses: Die Einbindung von Spitälern in die Begutachtung könnte die Ausbildung neuer Gutachter fördern. Das Verfassen von Gutachten ist ein Teil der fachärztlichen Ausbildungen.
- Professionalisierung und Imageverbesserung: Mehr Gutachten von öffentlichen Spitälern könnte die Begutachtung professionalisieren und das Vertrauen in die IV-Gutachten erhöhen.
Die Vorgaben für Institutionen, welche poly- und bidisziplinäre Gutachten erstellen, sowie die geltenden Tarife sind
hier abrufbar.