«Ärzte fühlen sich grundsätzlich verdächtigt, das System auszunutzen»

Arnaud Perrier, Präsident der SAMW fordert im Interview mit CH Media, dass Ärzte ausserhalb der Bürozeiten besser erreichbar sind, die Ausbildung stärker am Bedarf orientiert wird und das Kontrollsystem der Krankenkassen reformiert wird.

, 30. Dezember 2025 um 06:10
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Arnaud Perrier, Internist und Professor am Universitätsspital Genf (HUG), leitete zehn Jahre als medizinischer Direktor das HUG. 2025 trat er in den Ruhestand und übernahm die Präsidentschaft der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften. Bild: HUG
Überlastete Notfallstationen sind ein Dauerthema. Aktuell wird einmal mehr über eine Bagatellgebühr diskutiert. In der kommenden Wintersession entscheidet das Parlament jedoch nicht nur über eine Gebühr für Bagatellfälle, sondern über eine Abgabe für sämtliche Behandlungen im Spitalnotfall ohne ärztliche Überweisung.
Im Interview mit dem «St. Galler Tagblatt» (CH Media) äussert sich auch der Westschweizer Internist Arnaud Perrier, Präsident der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) zur Notfall-Debatte. Für ihn ist sie ein Symptom eines tieferliegenden Problems: einer strukturell geschwächten Grundversorgung.
Perrier fordert daher ein Umdenken. Ärztinnen und Ärzte sollten auch ausserhalb der klassischen Bürozeiten besser erreichbar sein – frühmorgens, spätabends und am Wochenende. Ergänzt werden soll dies durch eine stärker vernetzte Grundversorgung mit Telemedizin, Beratungsangeboten in Apotheken sowie einer klareren Aufgabenteilung zwischen Ärzteschaft und Pflegefachpersonen.
Gleichzeitig räumt Perrier ein, dass längere Öffnungszeiten vor allem jene treffen würden, die bereits heute stark belastet sind – insbesondere Hausärztinnen, Allgemeinmediziner und Kinderärzte. Deshalb fordert er eine bessere finanzielle Abgeltung: Wer abends oder am Wochenende arbeite, müsse dafür auch angemessen entschädigt werden.

Kontrollsystem der Krankenkassen

Kritisch äussert sich Perrier zudem zum Kontrollsystem der Krankenkassen. Dieses habe sich aus seiner Sicht als gescheitert erwiesen. «Manche Ärztinnen verbringen einen Grossteil ihrer Zeit damit, Kostengutsprachen zu begründen», kritisiert er.
Das schaffe ein Klima des Misstrauens - «Ärzte fühlen sich grundsätzlich verdächtigt, das System auszunutzen» - untergrabe die Motivation und trage dazu bei, dass Fachkräfte den Beruf verlassen. Nötig sei ein System, das stärker auf Transparenz und Wirksamkeit setze – und wieder Vertrauen zwischen den Akteuren herstelle.

Gesundheit in der Bundesverfassung

Langfristig fordert die SAMW zudem, die Gesundheit in der Bundesverfassung zu verankern. Der Zugang zu einer angemessenen medizinischen Versorgung sei selbst im teuren Schweizer Gesundheitssystem nicht mehr garantiert, sagt Perrier. Eine Umfrage aus dem Jahr 2023 zeige, dass rund ein Viertel der Bevölkerung aus Kostengründen auf Behandlungen verzichte.

Medizinstudienplätze

Auch bei der Ausbildung sieht Perrier Handlungsbedarf. Die Zahl der Medizinstudienplätze, die Wahl der Fachrichtungen und die Verteilung der Praxisstandorte müssten sich stärker am tatsächlichen Bedarf orientieren. Zwang lehnt er ab – doch medizinische Versorgung dürfe nicht allein individuellen Präferenzen folgen.
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