«Temporärvermittler müssen derzeit als Sündenböcke herhalten»

Der kollektive Verzicht auf Temporärpersonal mache wenig Sinn, sagt Florian Liberatore von der ZHAW. Er vermutet hinter dem Schritt strategische Motive.

, 25. April 2025 um 14:18
image
Bild: zvg
Temporärvermittler stehen zunehmend am Pranger. In der Debatte um die Pflegekrise geraten sie immer stärker unter Druck – als Kostentreiber, als Systemproblem, als Sündenböcke.
«Die Vermutung liegt nahe, dass die Temporärvermittler derzeit als Sündenböcke herhalten müssen», sagt Florian Liberatore von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).
Er spricht damit den aktuell viel diskutierten Verzicht auf Temporärarbeit an – eine Entwicklung, der sich immer mehr Gesundheitsinstitutionen anschliessen. In Zürich hat der Verband Zürcher Krankenhäuser - ihm angeschlossen sind 34 Spitäler und Pflegeeinrichtungen - angekündigt, ab Sommer 2025 keine temporär angestellten Pflegefachpersonen mehr über Agenturen zu beschäftigen.
Florian Liberatore ist Dozent und stellvertretender Leiter der Fachstelle Management im Gesundheitswesen des Winterthurer Instituts für Gesundheitsökonomie der ZHAW.
Betriebswirtschaftlich, so Liberatore, sei dieser kollektive Verzicht schwer nachvollziehbar. «Es macht wenig Sinn, sich etwas zu verbieten, das man vielleicht bald wieder braucht.» Hinter dem Schritt vermutet er zwei strategische Motive: Zum einen könnten die Spitäler über das gemeinsame Vorgehen mehr Druck auf die Preise der Agenturen ausüben. Zum anderen eigne sich das Thema gut, um von eigenen strukturellen Problemen wie zu knappen Budgets, Personalmangel oder unzureichender Personalplanung abzulenken - oder intern Veränderungen in der Personalplanung von oben anzustossen.
«Es wird sich unausweichlich die Frage stellen: Betten schliessen oder Schichten in Unterbesetzung fahren?»
Der Branchenverband Swissstaffing hat wegen des koordinierten Vorgehens der Spitäler bereits bei der Wettbewerbskommission Anzeige eingereicht – wegen des Verdachts auf kartellrechtswidrige Absprachen und Marktmissbrauch. Man wolle erreichen, dass dem Verband Zürcher Krankenhäuser (VZK) untersagt werde, einen kollektiven Boykott des Personalverleihs zu organisieren.
In den Institutionen selbst sorgt der Schritt für Unsicherheit. «Ohne die Temporären wird es für viele Gesundheitsinstitutionen schwierig», so Liberatore. Es werde sich unausweichlich die Frage stellen: «Betten schliessen oder Schichten in Unterbesetzung fahren?» Zwar sei derzeit etwas mehr festes Pflegepersonal verfügbar als in den Vorjahren – der Druck auf die Häuser bleibe aber bestehen.

Pool-Modelle

Viele Spitäler versuchen inzwischen, das Angebot der Agenturen mit internen Pool-Modellen zu ersetzen – also mit flexibel einsetzbaren Mitarbeitenden aus dem eigenen Haus. Dass Temporärfirmen überhaupt so erfolgreich waren, liegt laut Liberatore daran, dass sie ein echtes Bedürfnis erkannt haben: Pflegefachpersonen, die selbstbestimmt und flexibel arbeiten wollen, und Institutionen, die kurzfristig Vakanzen füllen müssen. «Wenn ich mit meinem internen Pool nicht auskomme, bleibt der Griff zur Temporäragentur oft die einzige praktikable Option.»

Was die Forschung zeigt

Florian Liberatore hat im Rahmen des Projekts Crowis untersucht, wie digital vermittelte Temporärarbeit die Pflege in der Schweiz verändert. Die Ergebnisse sind eindeutig: Zwischen 2016 und 2022 setzten die meisten Spitäler regelmässig temporäre Pflegefachpersonen ein – meist langfristig geplant. 2022 lag die Erfolgsquote bei der Vermittlung über die im Projekt untersuchte Plattform bei rund 88 Prozent für klassische Temporäre und 86 Prozent für Pool-Modelle.
Pflegefachpersonen boten im Median 15 Schichten pro Jahr an und wurden durchschnittlich zwölfmal eingesetzt – oft in mehreren Institutionen. Die Studie zeigt: Temporärarbeit schafft Flexibilität, erhöht die Planbarkeit und verbessert die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Sie steigert damit auch die Attraktivität des Berufsbilds.
Allerdings birgt sie auch Risiken wie Integrationsprobleme, Wissenslücken in Abläufen oder Teamkonflikte – insbesondere bei grossen Lohnunterschieden. Entscheidend ist deshalb der Kontext: Wie Temporäre eingesetzt werden, macht den Unterschied.

Strategisch statt ideologisch

Die Studienautoren fordern einen bewussten, qualitätsgesicherten Einsatz temporärer Pflegearbeit. Pflegekräfte sollen die Herausforderungen kennen und aktiv bewältigen. Institutionen wiederum brauchen klare Strategien, Prozesse und ein systematisches Monitoring. Auf nationaler Ebene plädiert die Studie für eine valide Datengrundlage – um Temporärarbeit gezielt und rechtssicher steuern zu können.
Temporärarbeit ist weder Allheilmittel noch Problemursache. Sie kann einen wertvollen Beitrag zur Versorgung leisten – wenn sie als gezieltes, durchdachtes Element in die Personalplanung eingebettet wird. Die zentrale Frage lautet nicht: «Ob» – sondern: Wie?
Zur ZHAW-Studie

  • temporärvermittler
  • arbeitswelt
  • fachkräftemangel
Artikel teilen

Loading

Kommentar

Mehr zum Thema

image

«Nulltoleranz» gegenüber Aggressionen am Spital Wallis

68 Prozent mehr Fälle von asozialem Verhalten in zwei Jahren – Eine neue Richtlinie und eine Sensibilisierungskampagne sollen künftig das Personal vor Übergriffen durch Patienten und Angehörige schützen.

image

Frühpensionierung? Nicht mit uns.

Mitten im Medizinermangel bietet eine grosse deutsche Erhebung ein überraschendes Bild: Nur sehr wenige Ärztinnen und Ärzte streben einen frühen Ruhestand an. Viele möchten bis in die späten Sechziger oder gar Siebziger tätig sein – mit Leidenschaft.

image

Chirurgin oder Mutter? Wenn Karriere und Kinderwunsch kollidieren

Lange Arbeitszeiten, starrer Ausbildungsweg, kaum Spielraum für Teilzeit: Junge Chirurginnen verschieben oft ihre Mutterschaft. Das hat Konsequenzen – auch fürs Fachgebiet.

image

Zulassungs-Stau bei SIWF und MEBEKO: Zürich reagiert

Lange Wartezeiten bei der Titelanerkennung gefährden die medizinische Versorgung. Nun passt das Zürcher Amt für Gesundheit seine Praxis an und erlaubt es teilweise, Ärztinnen und Ärzte provisorisch einzusetzen.

image

Universitätsmedizin bleibt Männersache – trotz Lippenbekenntnissen

In der Westschweiz liegt der Frauenanteil in Top-Arztpositionen höher als in der Deutschschweiz. Eine neue Auswertung der Universitätsspitäler zeigt regionale Unterschiede – und ein nach wie vor tiefes Gesamtniveau bei den Spitzenpositionen.

image

Gesundheitswesen sucht am meisten Personal – mit wachsendem Abstand

Nach einer kurzen Entspannung im Frühjahr steigt die Zahl der offenen Stellen für Ärzte, Pflegefachleute oder MPA wieder an.

Vom gleichen Autor

image

Nach Nullrunde: KSA, KSB und PDGA erhöhen Löhne 2026

Die Angestellten der Kantonsspitäler Aarau und Baden sowie der Psychiatrischen Dienste Aargau erhalten 2026 wieder mehr Lohn. Die Lohnsumme wird um 1,2 Prozent erhöht.

image

Antibiotikaresistenzen: Bund will Spitäler besser rüsten

In jedem zweiten Spital fehlt ein vollständiges Programm zur Bekämpfung von Antibiotikaresistenzen. Der Bund kündigt verstärkte Unterstützung beim Aufbau entsprechender Massnahmen an.

image

Zwei Professoren für Palliative Care am Bethesda Spital

Am Bethesda Spital Basel arbeiten erstmals zwei Professoren der Palliative Care Seite an Seite: Christopher Böhlke wurde zum Titularprofessor der Universität Basel ernannt und ergänzt damit das Team um Chefarzt Jan Gärtner.