«Viele junge Ärzte fühlen sich körperlich und emotional erschöpft»

Eine 42-Stundenwoche für Assistenz- und Oberärzte? Ja, sagt Nora Bienz vom VSAO. Denn es könne kein Ziel sein, eine Elite 'heranzuzüchten', die dann ausbrennt.

, 30. Juni 2023 um 04:23
letzte Aktualisierung: 3. September 2024 um 08:43
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«Die Assistenz- und Oberärzte arbeiten illegal so viel, ohne dass sie dabei ausgebildet werden»: Nora Bienz, Vizepräsidentin VSAO Schweiz. | Zvg
Frau Bienz, zerstört der VSAO mit seinem Vorhaben, eine 42 Stundenwoche einzuführen, einen Eliteberuf? Ich finde es per se schwierig, wenn sich eine Berufsgruppe als Elite bezeichnet und so vom Rest der Gesellschaft abheben möchte. Von zerstören kann keine Rede sein – vielmehr versuchen wir einen Beruf möglichst nachhaltig zu gestalten, so dass die jungen Leute diesem auch treu bleiben. Es kann kein Ziel sein, eine Elite ‘heranzuzüchten’, die bereit ist, alles zu opfern für den Beruf und dann ausbrennt.
Um ein guter Chirurg zu werden, braucht es doch genau diese Leidenschaft und die Bereitschaft, überdurchschnittlich zu arbeiten; oder nicht? Wir sind überzeugt, dass man auch ein guter Chirurg werden kann im Rahmen der normalen Arbeitszeiten. Es kann nicht das Ziel sein, dass man jenen Nachwuchs aussiebt, der nicht bereit ist, 150 Prozent zu arbeiten. Natürlich gibt es eine Selektion unter den jungen Chirurgen, aber diese darf nicht abhängig von der geleisteten Arbeitszeit gemacht werden. Vielmehr müssen Eigenschaften wie Interesse und Talent über eine chirurgische Karriere entscheiden.
Nora Bienz ist Oberärztin an der Universitätsklinik für Intensivmedizin am Inselspital Bern und Vizepräsidentin des Verband Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte VSAO Schweiz.
Ist denn tatsächlich die Arbeitszeit ein so entscheidender Faktor für die zunehmende Unzufriedenheit der jungen Spitalärzte? 86 Prozent unserer in einer repräsentativen Umfrage befragten Mitglieder, wüschen sich eine tiefere Wochenarbeitszeit von 42 Arbeitsstunden – das sagt doch schon alles. Die Ungleichbehandlung zu allen anderen Arbeitnehmenden führt zur Unzufriedenheit; die heutige Generation ist nicht mehr bereit alles aufzugeben für den Beruf.
Und dennoch gibt es Kolleginnen und Kollegen, die mehr im Operationssaal stehen und nicht von strengen Arbeitszeiten ausgebremst werden möchten. Weshalb ist nicht eine variable Arbeitszeit von beispielsweise 55 Stunden möglich? Im Schnitt wird heute 56 Stunden gearbeitet! Die Assistenz- und Oberärzte arbeiten illegal so viel, ohne dass sie richtig ausgebildet werden. Ganz offensichtlich ist das also nicht der richtige Weg. Noch mehr Flexibilisierung führt letztlich nur dazu, dass die Ärzte noch mehr ausnutzt werden und weniger ein Auge darauf geworfen wird, dass sich die Spitäler besser organisieren.
«Die reine Arbeitszeiterhöhung wird das Problem nicht lösen, wenn die Weiterbildung innerhalb der Klinik keinen hohen Stellenwert geniesst.»
Zu viele Assistenzärzte, zu wenig Zeit im Operationssaal und zu wenig Weiterbildung – was läuft schief? Das Problem ist die fehlende Bereitschaft, die Klinikstrukturen effizient zu organisieren und die Weiterbildung zu strukturieren. Insbesondere in der Chirurgie herrscht ein grosser Aufholbedarf, die Organisationslücken aufzuarbeiten. Die Assistenten müssen sich mit Bürokratie und vielen Leerläufen herumschlagen und sind nicht dort, wo sie eigentlich sein möchten: beim Patienten. Das führt zur Frustration und die Ausbildung leidet.
Stichwort Aus- und Weiterbildung – wie soll diese mit einer 42 Stunden Woche in Zukunft möglich sein? Dazu muss präzisiert werden, dass sich die 42 Stunden auf die Zeit am Patientenbett bezieht und mindestens 4 Stunden strukturierte Weiterbildung hinzukommen. Vielen Kliniken gelingt es derzeit auch mit einer hohen Arbeitszeit nicht, ihre Leute vernünftig auszubilden. Es gibt offensichtlich ein Strukturproblem. Wenn chirurgische Assistenten 56 Stunden im Spital sind und nur zwei Stunden im Operationssaal stehen, dann ist dieses Spital schlichtweg schlecht organisiert. Die reine Arbeitszeiterhöhung wird das Problem nicht lösen, wenn die Weiterbildung innerhalb der Klinik keinen hohen Stellenwert geniesst.

Das 42+4-Konzept des VSAO

Der Verband Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte lancierte im Frühjahr 2023 die Forderung nach dem 42+4-Prinzip: Danach soll die wöchentliche Arbeitszeit für Assistenzärzte künftig durchschnittlich 42 Stunden Dienstleistung rund um die Patientenbetreuung betragen. Zusätzlich sollen die die Assistenzärzt Anrecht auf wöchentlich mindestens vier Stunden strukturierte Weiterbildung haben. Diese würde ebenfalls als Arbeitszeit gelten.
Werden generell nicht zu viele Chirurgen ausgebildet? Das ist ein Thema, vor allem wenn die einzige Antwort auf Überzeit die Anstellung von mehr Ärzten für Administrations- und Stationsarbeiten ist. Wenn man die Organisation verbessert und chirurgische Assistenten nicht mehr für Sekretariatsarbeiten ‘missbraucht’, dann bräuchte es möglicherweise weniger Assistenzärzte in der Chirurgie. Als Klinik muss man klar definieren, wieviele Assistenten man ausbilden kann und diese Ausbildung gut strukturieren. Es gilt auch ehrlich und fair jene zu selektionieren, die sich für den Beruf eignen.
Wie nehmen Sie aktuell die Stimmung bei den Assistenz- und Oberärzten wahr? Insgesamt hat der ‘Turnover’ in den Spitälern massiv zugenommen – wir betreuen heute viel mehr Patienten in kürzerer Zeit. Die Verdichtung des Arbeitsalltages ist stark spürbar und viele junge Ärzte fühlen sich körperlich und emotional erschöpft. Der administrative Aufwand und inhaltsleere, sinnlose Arbeiten wie auch die fehlende Wertschätzung, sind massgebliche Faktoren für die Unzufriedenheit. Die Arbeit am Patienten wird nach wie vor als grosse Bereicherung erlebt.
Es wird heute oft von einer verweichlichten Generation gesprochen. Gibt es einen Graben zwischen den Generationen? Ich denke schon. Die heutige Generation stellt Dinge mehr in Frage und vertritt ihre Anliegen und Bedürfnisse vehementer. Die Haltung kann man entweder bewundern und davon profitieren, oder man fühlt sich angegriffen. In den Spitälern arbeiten bis zu vier Generationen zusammen; da braucht es viel Kommunikation, damit das Miteinander funktioniert. Ich denke, Herrn Schöbs Polemik ist kontraproduktiv, weil er die Bedürfnisse der jungen Generation in keinster Weise ernst nimmt. Das Arbeitsgesetz setzt zum Schutz der Ärzte und der Patienten einen Rahmen und bietet dennoch eine erhebliche Flexibilität. Unsere Anstrengungen müssen dahingehen, die ärztliche Arbeit und Weiterbildung in diesem Rahmen zu verbessern.
  • Zum Thema: Die Meinung von Othmar Schöb, Chefarzt und Professor für Viszeral- und Thoraxchirurgie an der Klinik Hirslanden.

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