«Das Spital wird als rechtsfreier Raum wahrgenommen»

Gewalttätige Patienten und Angehörige belasten das Gesundheitspersonal – doch Konsequenzen haben sie kaum zu fürchten. Das muss ändern, sagt Pflegefachmann und Aggressions-Trainer Stefan Reinhardt.

, 26. Mai 2023 um 04:17
letzte Aktualisierung: 24. Januar 2025 um 08:18
image
«Der Täter bekommt sogar die Adresse des Opfers»: Stefan Reinhardt, Pflegefachmann und Experte Notfallpflege | zvg
Herr Reinhardt, Sie sind ursprünglich Pflegefachmann und haben vor 17 Jahren die Ausbildung zum Aggressionstrainer gemacht. Existiert das Problem der zunehmenden Gewalt im Spital damit schon viel länger, als allgemein wahrgenommen wird? Die Problematik von gewalttätigen Patienten, insbesondere auf den Notfallstationen, gibt es schon lange – es wurde jedoch nicht darüber geredet. Vielmehr gehörte es zum Pflegeberuf dazu und man musste für sich einen Weg finden, damit umzugehen. Wie sehr die Gewaltbereitschaft tatsächlich zugenommen hat, ist schwierig zu beurteilen. Häufig werden keine Zahlen erhoben und wenn doch, werden sie nicht veröffentlicht.
Weshalb? Die Erfassung bedeutet für die Spitäler ein zusätzlicher Zeitaufwand, der in der angespannten Lage mit Personalmangel schwierig zu bewältigen ist. Dabei wäre es wichtig, dass diese Problematik angegangen wird, schliesslich halten gewaltbereite Patienten das Personal von der Kernaufgabe ab, nehmen unglaublich viel Zeit und Ressourcen in Anspruch und belasten auch andere Patienten.
Stefan Reinhardt ist Pflegefachmann, Experte Notfallpflege und Trainer für Aggressionsmanagement. Er ist Ehrenpräsident und aktives Mitglied des Vereins NAGS Schweiz (Netzwerk Aggressionsmanagement im Gesundheits- und Sozialwesen).
Betrifft die Problematik Ärzteschaft und Pflegepersonal gleichermassen? Es betrifft in der Regel mehr das Pflegepersonal. Ein Grund dafür: Sie sind näher am Patienten dran. Es darf allerdings nicht vergessen werden, dass auch andere Bereiche mitbetroffen sind, etwa das Reinigungspersonal, Hausdienst, Hotellerie, technische Mitarbeitende.
Gibt es den typischen Patienten, der zu Gewalt neigt? Das kommt sehr auf den Bereich an: Auf der Notfallstation sind das typischerweise Männer zwischen 30 und 50 Jahren, die unter Alkohol- oder Drogeneinfluss stehen. Auf der Bettenstation hingegen sind es oft ältere Frauen, die von Demenz oder Delir betroffen sind.
Welches sind mögliche Gründe, dass Patienten oder deren Angehörige ausfällig werden? Die Patienten befinden sich in einer emotionalen Ausnahmesituation, haben Angst, Schmerzen und sind überfordert. Bei Angehörigen kann auch Trauer zu aggressivem Verhalten führen. Auf dem Notfall werden übrigens häufig jene Patienten mit den geringsten medizinischen Problemen gewalttätig.
  • «Gewalt findet oft unter dem Radar statt»: Verbale und körperliche Gewalt in Spitälern nimmt weiter zu.
  • «Die Anspruchshaltung ist spürbar gestiegen»: Adrian Kaegi, ehemaliger Staatsanwalt für Gewaltkriminalität und Ärztefälle, über die Hintergründe.
Welches war Ihr einschneidendsten Gewalt-Erlebnis in der Notfall Pflege? Ein Patient afrikanischer Herkunft war hochpsychotisch und hat nicht gesprochen. Wir hatten ihn in einem Einzelzimmer untergebracht, wo er schon nach kurzer Zeit ausbüxte und sich im Geräteraum versteckte. Eine besorgte Pflegerin wollte die neuen EKG-Geräte vor ihm schützen und ihn rausholen – mit fatalen Folgen. Der Patient drehte komplett durch, griff andere Patienten an und schlug wild um sich. Bis er überwältigt werden konnte. Hätte man ihn einfach im Geräterum gelassen, wäre wahrscheinlich nichts passiert.
Werden das Pflegepersonal und die Ärzteschaft genügend hinsichtlich solcher Situationen geschult? Das Bewusstsein in den Spitälern ist vorhanden und Aggressionsmanagement inzwischen ein Bestandteil in der Ausbildung – wenn auch nur ein kleiner. Viele Spitäler verfügen über ein Sicherheitskonzept und machen Deeskalationsschulungen mit ihren Mitarbeitenden, um aggressive Patienten abwehren oder beruhigen zu können.
«Ich kannte einen Assistenzarzt auf dem Notfall, der nahm einen Baseballschläger mit zur Arbeit. Das war sein Sicherheitsmanagement.»
Welche Auswirkungen hat die zunehmende Gewalt auf das Spitalpersonal? Für das Spitalpersonal ist es eine belastende Situation, wenn sie von einer Attacke betroffen sind; sie hinterlässt Angst. Ich kannte einen Assistenzarzt auf dem Notfall, der nahm einen Baseballschläger mit zur Arbeit. Das war sein Sicherheitsmanagement. Glücklicherweise kam der Schläger nie zum Einsatz. Für das Verhalten gewalttätiger Patienten und Angehöriger gibt es heute kaum Konsequenzen – das muss sich ändern.
Beschimpfungen und Beleidigungen gegen Pflegepersonal gelten rechtlich als Antragsdelikt. Die Gewalttäter haben wenig zu fürchten… Hier ist die Politik gefordert. Das Spital wird als rechtsfreier Raum wahrgenommen, wo man sich benehmen kann, wie man will. Das darf nicht sein! Ich verstehe nicht, weshalb Beschimpfungen gegen Personal des öffentlichen Verkehrs als Offizialdelikt gelten, dieselbe Tat im Spital jedoch ein Antragsdelikt ist. Die Hemmschwelle, einen Angriff zur Anzeige zu bringen, ist heute viel zu hoch und zu zeitintensiv. Zugleich bekommt der Täter sogar den Namen und die Adresse des Opfers.
Zunehmend setzen Spitäler Sicherheitspersonal ein. Ist das eine Lösung? Auf jeden Fall eine mögliche Übergangslösung. Das Vorhandensein von Sicherheitspersonal signalisiert den Patienten und ihren Angehörigen: Hier muss ich mich zusammenreissen. Dem Personal wiederum gibt es Sicherheit und dementsprechend tritt es auch anders auf.
«Ich rate zum Verhalten wie im Brandfall: eigene Sicherheit beachten, alarmieren, retten, löschen. Die randalierende Person ist das Feuer, zu der man zuletzt geht.»
Was raten Sie im Umgang mit brenzligen Situationen? Abstand halten! Häufig ist das Pflegepersonal zu dicht am Patienten dran. Auch den Patienten zwangsberuhigen zu wollen, funktioniert meist nicht. Besser man lässt es zu, dass er sich bewegt. Ebenso kann ein Perspektivenwechsel helfen und zur Deeskalation beitragen. Konkret bedeutet das: aus dem Raum gehen oder das Bett des Patienten drehen.
Und, wenn es doch zu einer Attacke kommt? Ich rate zum Verhalten wie im Brandfall: eigene Sicherheit beachten, alarmieren, retten, löschen. Die randalierende Person ist das Feuer, zu der man als letztes geht. Und vor allem: Frühzeitig die Polizei rufen! Hier ist die Hemmschwelle oft zu hoch und es wird zu lange abgewartet. Es gilt die unausgesprochene Haltung: «Der ist krank, ich will ja nicht, dass er bestraft wird».
Die Notfallstationen sind überfüllt und immer mehr Pflegepersonal wandert ab. Welche Massnahmen könnten helfen, dass sich die Situation in Zukunft entspannt? Die zunehmende Gewalt ist ein wesentlicher Aspekt und es bräuchte, ähnlich wie in der Psychiatrie, eine Fachperson, die im Hintergrund das Sicherheitsmanagement organisiert. Die da ist und weiss, was in brenzligen Situationen zu tun ist. Das könnte auch Spitäler entlasten, damit sich das Pflegepersonal auf seine Kernaufgaben konzentrieren kann. Ein hausinternes Konzept zu haben ist zugleich ein Qualitätssiegel, im Sinne von: 'Wir sorgen dafür, dass Sie hier sicher sind'.
Zugleich haben Sie auch einen Appell an die Politik… Das Problem beginnt doch schon sehr viel früher: Aus betriebswirtschaftlicher Sicht wird gewünscht, dass die Notfallstationen ausgelastet sind – auf den Spital-Homepages wird damit geworben, dass sie 24/7 für ihre Patienten da sind. Ausbaden muss es das Personal; es wird überrannt von Patienten, die medizinisch nicht auf den Notfall gehören. Hier braucht es Alternativen, etwa externe Notfallzentren, die 24 Stunden geöffnet sind. Und politisch muss festgelegt werden, wann jemand als Notfall gilt.
  • spital
  • Spitalpersonal
  • Gewalt
  • Notfall
Artikel teilen

Loading

Kommentar

Mehr zum Thema

image

SP Solothurn fordert kantonales Monitoring gegen Gewalt

Übergriffe auf Pflegepersonal sollen systematisch erfasst werden. Die SP Solothurn fordert dafür Meldestellen und ein kantonales Monitoring.

image

Apotheken gegen häusliche Gewalt: Aargau lanciert E-Learning

Die Aargauer Polizei verzeichnet täglich sieben Einsätze wegen häuslicher Gewalt. Ein E-Learning für Apotheken soll helfen, Betroffene zu erkennen und zu unterstützen.

image

Sparprogramme reichen nicht: Das Spitaljahr im Check

Kooperationen, weniger Angebote, effizientere Abläufe, Schliessungen, Nullrunden bei den Löhnen: Die öffentlichen Akutspitäler haben viel getan, um die Finanznot zu bekämpfen. Fazit: So geht es trotzdem nicht weiter.

image

Spitäler 2025 und 2026: Bessere Margen – aber grosse Tarif-Fragezeichen

Die Finanzchefs der Schweizer Spitäler erwarten fürs Erste eine etwas bessere Rentabilität. Zugleich sorgt das neue Tarifsystem für Unsicherheit. Die Erwartungen reichen von Mehreinnahmen bis zu spürbaren Einbussen.

image

Die 10-Prozent-Illusion der Schweizer Spitäler

Eine Betriebsrendite von zehn Prozent galt lange als Überlebensregel für Akutspitäler. Womöglich ist dieser Richtwert inzwischen zu tief. Die Beratungsfirma PwC fordert mehr Effizienz – die Spitäler höhere Tarife.

image

«Das System selbst verletzt die Pflegenden»

Pierre-André Wagner ist Pflegefachmann, Rechtsanwalt und Leiter Rechtsdienst beim SBK. Ein Gespräch über strukturelle Gewalt, politischen Stillstand und eine Pflege am Limit.

Vom gleichen Autor

image

Raus aus der Chirurgie, rein in die Privatwirtschaft

«Aufwand und Ertrag stimmen in der Chirurgie nicht», sagt der ehemalige Chirurg Mathias Siegfried. Er zog die Reissleine und wechselte in die Privatwirtschaft.

image
Nachgefragt bei …

«Hospital at Home» im Baselbiet: Zwischen Pilotprojekt und Zukunftsmodell

Der Kanton Baselland investiert knapp zehn Millionen Franken, um ‹Hospital at Home› aufzubauen. Dennoch ist die langfristige Zukunft des Angebots unsicher, sagt Severin Pöchtrager, Leitender Arzt von Hospital at Home.

image

«Öffentlich und Privat: Beide Systeme kämpfen ums Überleben»

Daniel Lüscher sagt im Interview, warum Spitäler zwischen öffentlichem Auftrag und privatwirtschaftlichem Denken balancieren müssen – und warum sie nicht freitags um 17 Uhr schliessen dürfen.