«Weihnachten ist auch im Spital eine magische Zeit»

Die Festtage sind eine teils schmerzliche, teils hoffnungsvolle Zäsur für Kranke und Angehörige. Ein Gespräch mit Spital-Seelsorgerin Margarete Garlichs.

, 21. Dezember 2023 um 07:06
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Margarete Garlichs ist reformierte Spitalseelsorgerin und Pfarrerin am Universitätsspital Zürich. | ab
Frau Garlichs, wie erleben Sie als Seelsorgerin die Weihnachtszeit im Spital? Es herrscht eine besondere Atmosphäre: Sowohl Patienten wie auch das Spitalpersonal sind ‘durchlässiger’, lassen sich emotional berühren, und es hängt eine besondere Magie in der Luft. Die Sehnsucht nach Zusammensein ist da, das ist auch auf den Stationen spürbar – trotz der ganzen Alltagshektik. Die Weihnachtszeit lebt stark von Erinnerungen und Traditionen. Nach wie vor schenkt sie irgendwie Hoffnung und ist oft eine Zeit des Bilanzierens.
Margarete Garlichs ist eine von 16 reformierten, katholischen, christkatholischen und muslimischen Spitalseelsorgenden am Universitätsspital Zürich. Sie arbeitet überwiegend in der Frauenklinik des USZ. In ihrer eigenen Praxis macht sie Trauerbegleitung, Coachings und Supervision.
Auch das Spital ist ein Ort der Hoffnung. Und dennoch möchten wohl die wenigsten Menschen hier Weihnachten verbringen. Die Weihnachtszeit ist für viele Patienten und Patientinnen eine schwierige Zeit, in der sie stark mit ihrer Situation hadern. Eigentlich sollte die Welt dann in Ordnung sein, man möchte Guetzli backen, Geschenke kaufen und das Festmahl vorbereiten. Stattdessen liegen sie Spital. Es fliessen Tränen; viele Patienten sind auch wütend und enttäuscht, es zeigt sich die ganze Palette an Gefühlen. Wir Seelsorgende werden in der Weihnachtszeit deutlich häufiger gerufen.
Worüber sprechen die Patienten und Patientinnen mit Ihnen? Über ihre Enttäuschung, Verzweiflung und das Gefühl, die Familie in dieser Zeit im Stich zu lassen. So wurde ich etwa zu einer schwangeren Mama gerufen, die liegen muss und die ersten Weihnachten mit ihrer Tochter verpassen wird. Eine andere Frau war verzweifelt, weil sie einen schlimmen Streit mit ihrer pubertierenden Tochter hatte, der eskalierte. An den vergangenen Weihnachten wurde ich zu einem Patienten gerufen, der zwar kein akutes Problem hatte, sondern mir einfach seine Lebensgeschichte erzählen wollte. Er war einsam. Weihnachten ist für viele auch die Zeit, in der Bilanz gezogen und darüber reflektiert wird, was einem kostbar ist im Leben.
«Weihnachten ist für viele auch die Zeit, in der Bilanz gezogen und darüber reflektiert wird, was einem kostbar ist im Leben.»
Als Spitalseelsorgerin arbeiten Sie auch in der Klinik für Geburtshilfe und in der Neonatologie. Sind das besondere Orte zu Weihnachten? Die Geburtshilfe ist generell ein besonderer, magischer Ort. Wenn ein Kind geboren wird, steht die Welt für einen Moment still, alle sind verzaubert – auch jene, für die es die tausendste Geburt ist. In meiner letzten Pikettwoche wurde ich gerufen, weil ein Kindchen notfallmässig früher per Kaiserschnitt geholt werden musste. Das Kind war viel zu klein und zu leicht für seine Schwangerschaftswoche und es war unklar, wie die Geburt verlaufen würde. Der OP-Saal war voller Spezialisten: Mehrere Ärztinnen der Geburtshilfe, Hebammen, Anästhesisten und die ganze Equipe der Neonatologie. Und dann der besondere Moment, als das Kind herausgeholt wurde und laut und kräftig schrie, als wolle es seine ganze Lebensenergie zeigen. In dem Augenblick erahnt man vielleicht die Tiefe, die in der Weihnachtsgeschichte liegt.
Sie werden auch mit schwierigen Ereignissen konfrontiert, etwa wenn Eltern ihr Baby verlieren. Wie gehen Sie damit um? Jeder Kindsverlust geht mir sehr nahe und es fliessen auch bei mir Tränen. Zugleich steckt in diesen unendlich traurigen Geschichten sehr viel Berührendes, ja Positives. Es ist immer ein besonderer Moment, wenn ein Kind auf die Welt kommt – auch wenn es eine Totgeburt ist. Für die Eltern bedeutet es enorm viel, ihr Kind kennenzulernen, es willkommen zu heissen und dann Adieu zu sagen. Auf diesem Weg begleite ich sie. Viele Eltern berichten mir rückblickend, wie wertvoll diese Zeit, trotz aller Tragik, für sie war. Und oft erreichen mich nach einiger Zeit Geburtskärtchen vom gesunden Geschwisterkind.
«Auch bei Menschen, die nicht religiös sind, kommen am Krankenbett manchmal Erinnerungen hoch, etwa wie die Grossmutter mit ihnen gebetet hat.»
Welche Rolle spielt der Glaube bei der Verarbeitung von Schicksalsschlägen? Die meisten Menschen tragen eine Form von Spiritualität in sich; etwas das ihnen Kraft schenkt. Das kann der Glaube an Gott sein oder was ganz anderes. Bei einem Kindsverlust entwickeln Eltern oft ihre ganz eigenen Vorstellungen, wo ihr Baby jetzt ist – es spielt mit anderen Kindern auf einem Stern oder die bereits verstorbene Grossmutter wacht über es. Schutzengel spielen eine wichtige Rolle, ebenso ist der Glaube an eine göttliche Macht, die es gut mit uns meint, verbreitet. Auch bei Menschen, die nicht religiös sind, kommen am Krankenbett manchmal Erinnerungen hoch, etwa wie die Grossmutter mit ihnen gebetet hat. Oder sie wünschen sich einen Segen für ihr ungeborenes Kind, obwohl sie sich eigentlich als unreligiös bezeichnen.
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Am 25. Dezember findet jeweils ein Weihnachtsgottestdienst in der festlich geschmückten Kirche des USZ statt.
Wenn Sie das Jahr 2023 Revue passieren lassen – gibt es eine Geschichte oder ein Erlebnis aus Ihrem Arbeitsalltag, das Ihnen in besonderer Erinnerung geblieben ist? Im Sommer rief mich eine Frau an, die vor Jahren ihr Kind auf der Neonatologie hatte. Sie erzählte, dass auf ihr immer noch die Erinnerungen lasteten, obwohl ihr Sohn inzwischen ein gesunder, fröhlicher Schuljunge war. Wir sind deshalb zusammen auf die Station gegangen und durch Zufall war auf der Intensivstation genau jener Platz nicht belegt, auf dem ihr Sohn vor Jahren lag. Dort hat die Frau nochmals ihre ganze Geschichte erzählt, Tränen geweint und Dankbarkeit gespürt. Danach war sie wie befreit.
Wie werden Sie Weihnachten verbringen? Ich liebe die Weihnachtszeit, das Innehalten, mit Freunden bei Glühwein Zeit zu verbringen, die Gerüche, und all die Erinnerungen, die damit verbunden sind. Ich arbeite an Weihnachten sehr gerne, es ist eine ganz besondere Zeit als Spitalseelsorgerin. In diesem Jahr habe ich allerdings frei und werde mit meinem Mann und meiner Tochter die Feiertage in Deutschland bei meiner Familie verbringen. Darauf freue ich mich sehr.
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