Einige grössere und kleinere Spitäler stehen finanziell am Abgrund und sind gezwungen, nach einer verstärkten öffentlichen Finanzierung zu rufen. Kleineren Spitälern in peripheren Regionen wird dabei empfohlen (oder sie werden dazu gezwungen), sich unter das Dach eines grossen Zentrumsspitals oder einer Spitalgruppe zu begeben.
Integration scheint das Zauberwort zu heissen. Integration impliziert faktisch aber die Aufgabe der strategischen, operativen und oft auch rechtlichen Eigenständigkeit.
Worin bestehen die Erfolgsvoraussetzungen und Risiken solcher Vorhaben? Diese Frage soll – nicht zuletzt im Kontext der laufenden Debatte zur Zukunft des Spitals Oberengadin in Samedan – hier reflektiert werden.
Johannes Rüegg-Stürm ist ordentlicher Professor für Organization Studies an der Universität St. Gallen. Er engagiert sich in einem langfristig ausgerichteten Forschungsprogramm zum Management im Gesundheitswesen.
Das Regionalspital Oberengadin ist zusammen mit einer ehemaligen Privatklinik, die sich heute im Eigentum des Kantonsspitals Graubünden befindet, für die Gesundheitsversorgung der Oberengadiner Bevölkerung und der angereisten Touristen zuständig. Allfällige Defizite müssen durch die elf Trägergemeinden des Oberengadins gedeckt werden. Diese Defizite nahmen in den vergangenen Jahren sehr stark zu, was verständlicherweise die finanzierenden Gemeinden auf den Plan rief.
Die unternehmerisch-strategische Weiterentwicklung des Spitals Oberengadin wurde damit unvermittelt zum Gegenstand einer heftig geführten politischen Kontroverse.
Nun müssen sich die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger für eine Fortsetzung der unternehmerischen Eigenständigkeit des Spitals oder für dessen Integration ins Kantonsspital Graubünden (KSGR) entscheiden.
Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass das KSGR aufgrund seiner besonderen Trägerschaft, einer privatrechtlichen Stiftung, vor ein paar Jahren – strategisch motiviert – mit der Klinik Gut einen zentralen privaten Anbieter von Gesundheitsleistungen im Raum Oberengadin kaufen konnte. Diese Orthopädie-Klinik ist zumindest partiell ein direkter Konkurrent des Spitals Oberengadin. Zwischen beiden Versorgungsanbietern würden sich aber auch Kooperationspotenziale ergeben, die es bis jetzt noch nie substanziell auszuschöpfen gelang.
Integrationsargumente: Qualität und Kosten
Neu soll nun über eine Integration des Regionalspitals ins Zentrumsspital eine gleichbleibende Versorgungsqualität zu deutlich tieferen Kosten realisiert werden können. Dieses Schlüsselversprechen einer (erfolgreichen) Integration bedarf einer genaueren Analyse. Worin genau besteht die Versorgungsqualität eines Regionalspitals? Und wovon hängen die Kosten eines Regionalspitals ab?
- Die Versorgungsqualität eines Spitals hängt erstens ab von der Breite des Angebots und von der zeitlichen Verfügbarkeit – also der Wartezeit. Für welche Behandlungen sollen Anwohnerinnen und Anwohner das Regionalspital aufsuchen können, ohne unzulässig lange warten, oder (möglicherweise sogar notfallmässig) eine längere Reise in ein Zentrumsspital in Kauf nehmen zu müssen?
- Die Versorgungsqualität eines Spitals hängt zweitens ab von der Qualität der angebotenen Behandlungen. Wie professionell und geübt werden die im Kontext einer wachsenden Spezialisierung praktizierten Interventionen gewählt und ausgeführt? Wie sieht es mit möglichen Komplikationen aus? Wie gut ist die Wirkung der vorgenommenen Interventionen im Zusammenspiel mit einer förderlichen Heilatmosphäre auf den Gesundheitszustand der behandelten Menschen? Wie schnell erlangen Patientinnen und Patienten wieder eine gute Gesundheit?
Und wovon hängen die Kosten eines Regionalspitals ab?
- Ein massgeblicher Teil der Kosten eines Spitals besteht aus Bereitschafts- und Vorhalteleistungen. Diese Kapazitätskosten hängen in grossem Masse von der Breite des Behandlungsangebots ab und wirken vor allem für Regionalspitäler in einer geographisch peripheren Region sehr belastend, weil die Bereitschaftskosten auf die faktisch auftretenden Fallzahlen verteilt werden müssen. Konkret: Je gesünder die lokale Bevölkerung ist, desto höher werden die Bereitschaftskosten pro Fall bzw. pro Kopf der Bevölkerung sein, d.h. desto schlechter wird das finanzielle Ergebnis des Regionalspitals ausfallen. Damit einher geht auch ein struktureller Fehlanreiz, der in unserem Finanzierungssystem mit den Fallpauschalen eingebaut ist. Indem nicht zwischen Bereitschaftskosten und Behandlungskosten unterschieden wird, rentiert sich in diesem System nicht die Gesundheit, sondern Krankheit.
- Ein zweiter Teil der Kosten hängt stark mit der Prozessqualität der Behandlungsprozesse zusammen. Wie viel unnötige Verschwendung (Aktivitäten ohne Mehrwert für die Patientinnen und Patienten) verbirgt sich hinter den Patientenprozessen? Solche Verschwendung entsteht durch Doppelspurigkeiten, unzureichendes Kapazitätsmanagement, durch eine unzureichende Zusammenarbeits- und Kommunikationskultur, unzureichende Informationsflüsse, durch unnötige oder falsch konfigurierte Infrastrukturen und durch eine mangelhafte «Managing Capacity» (Führung) ganz generell.
So ist seit längerer Zeit kaum überraschend zu beobachten, dass sich mit Blick auf die beschriebenen Aspekte «Versorgungsqualität» und «Kosten» auch im Bereich der peripheren Regionalspitäler grosse Unterschiede in der finanziellen Tragbarkeit manifestieren, beispielsweise auch zwischen dem Spital Oberengadin und dem Center da Sandà Engiadina Bassa. Es zeigt sich: Nicht die Grösse allein zählt, sondern ebenso – wie vorgängig skizziert – viele Qualitätsaspekte auf der Versorgungs-, Kosten- und auf der Management-Seite.
Was wäre also vertieft zu bedenken, wenn es um die Frage der Integration eines Regionalspitals in ein Zentrumsspital geht?
Erfolgsvoraussetzungen und Risiken einer Integration
Eine gleichbleibende Versorgungsqualität zu erhalten, bedeutet erstens, dass die Breite und die zeitliche Verfügbarkeit des Leistungsangebots nicht eingeschränkt, d.h. an den Hauptstandort verlagert werden dürfen. Es bedeutet zweitens, die Behandlungsqualität in ihren verschiedenen Ausprägungen aufrecht zu erhalten oder zu verbessern, indem Knowhow von Fachpersonen des Zentrumsspitals mobilisiert und in der etablierten Wertschöpfung des Regionalspitals fruchtbar gemacht wird.
Damit werden organisationsübergreifende unbürokratische Lernprozesse auf gleicher Augenhöhe zu einer entscheidenden Erfolgsvoraussetzung.
Kosten zu senken, ohne die Versorgungsqualität zu beeinträchtigen, bedeutet erstens eine systematische Verbesserung der Prozessqualität über Verfahren einer strukturierten Prozessoptimierung oder der Einführung einer Lean-Philosophie, d.h. eines ganzen Sets von Praktiken der gemeinschaftlichen Reflexion und fortlaufenden Optimierung des Arbeitsalltags. Dazu braucht es Knowhow und Erfahrung, die ein entsprechend erfahren aufgestelltes Zentrumsspital in ein Regionalspital einbringen kann, sofern diesbezüglich nach innen und aussen eine förderliche Kooperationskultur aufgebaut und gelebt wird.
«Die gerne bemühte Synergie kann sich als Folge einer grösseren räumlichen Entfernung als schwer realisierbar erweisen oder sogar ins Gegenteil verkehren.»
Kosten senken kann zweitens bedeuten, Ressourcen auf beiden Seiten besser auszuschöpfen, ob in der Kernwertschöpfung oder in administrativen Bereichen. Dies kann die Präsenz qualifizierter, unterausgelasteter Mitarbeitender des Zentrumsspitals erforderlich machen – bisweilen über virtuelle Kommunikation, oftmals ist aber physische Präsenz vor Ort unerlässlich.
Dieser Aspekt der kommunikativen Erreichbarkeit und Ansprechbarkeit vor Ort wird oft stark unterschätzt. Wirksame Teamarbeit unter Bedingungen hoher Ungewissheit und Unsicherheit – der Normalfall in komplexen Behandlungsprozessen – erfordert physische Präsenz und direkte Ansprechbarkeit.
Wenn diese nur unzureichend realisiert werden kann, führt dies nicht selten zu mehr Bürokratie, weil gerade bei einer unzureichenden Kooperationskultur rasch der Bedarf an Compliance und Kontrolle durch das Zentrumsspital anzusteigen droht und auf diese Weise durch die Hintertür eine Misstrauenskultur eingeführt wird. Eine solche Situation ist einem guten finanziellen Gesamtergebnis beider Spitäler völlig abträglich.
Mit anderen Worten: Die gerne bemühte Synergie-Option kann sich als Folge einer grösseren räumlichen Entfernung als schwer realisierbar erweisen oder sogar ins Gegenteil verkehren.
Was bedeutet dies für ein Regionalspital in Schwierigkeiten?
Vor diesem Hintergrund wäre eine umsichtige strategische Kooperation des Spitals Oberengadin mit der Klinik Gut in St. Moritz möglicherweise ein erster kluger Schritt, um positive Kooperationserfahrungen zu machen. Eine solche Option wäre bei gutem Willen beider Parteien viel einfacher zu realisieren als eine betriebliche «Integration» eines Regionalspitals in ein weit entferntes Zentrumsspital.
Denn bei einer Integration ist es keine leicht zu beantwortende Frage, welche Synergien in welcher konkreten Form unter Berücksichtigung welcher Erfolgsvoraussetzungen genau ausgeschöpft werden können. Diesbezüglich sitzt der Teufel meistens im Detail, und die erfolgreiche Ausschöpfung von Synergien beansprucht viel wertvolle «Management Attention», was auf beiden Seiten viel Zeit bindet.
Fazit: Genauer Blick und Abstand von generalisierbaren Erfolgsrezepten
Diese wenigen Überlegungen skizzieren die Vielfalt an Erfolgsvoraussetzungen und Risiken, die mit einer Fusion oder Integration einher gehen. Sie demonstrieren zugleich, wie heikel generalisierte Empfehlungen sein können und wie wichtig es ist, vor einer Integrations-, Transformations- oder gar Schliessungsentscheidung eines Spitals vor Ort ganz genau hinzuschauen, was in einem Regionalspital an Stärken realisiert worden und an Schwächen aufgelaufen ist, wie gut entwickelt auf beiden Seiten die Kooperationskultur nach innen und nach aussen ist, welche lokal unausgeschöpften Ressourcen vorhanden sind und auch tatsächlich mobilisiert werden könnten, und welche Ressourcen von einem grösseren Partner mitgenutzt werden könnten oder allenfalls von Dritten zugekauft werden müssten.
Falls diese Aspekte nicht mit der notwendigen Sorgfalt von allen – vor allem auch den für die Kernwertschöpfung operativ verantwortlichen – Beteiligten auf gleicher Augenhöhe reflektiert werden, besteht die Gefahr, dass die Betroffenen später feststellen müssen: Operation gelungen, Patient gestorben …
Es ist dieser differenzierte Blick des genauen Hinschauens, der unerlässlich ist, um sich spätere Enttäuschungen zu ersparen. Abstand zu nehmen ist dagegen von vermeintlich generalisierbaren Erfolgsrezepten.