«Es gibt nicht zu wenig Therapie, sondern zu viel Ineffizienz»: Das behauptet der Psychotherapeut Dietmar Luchmann provokativ in einem Artikel auf dem Portal
«Inside Paradeplatz». Er ortet in der Psychotherapie keine Versorgungskrise – sondern «eine Anhäufung berufsständischer Denkfehler».
Andere Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen finden die Kritik ihres Berufskollegen weitgehend polemisch und pauschalisierend. «Sie spiegelt nicht die tägliche, oft stille Arbeit für das seelische Wohl anderer Menschen wider», erklärt Gabi Rüttimann, Präsidentin der Assoziation Schweizer Psychotherapeutinnen und Pysychotherapeuten (ASP), auf Anfrage von Medinside.
Konkret benennt Dietmar Luchmann vier Punkte:
Strukturlose Gespräche ohne inhaltliche Substanz: Ketzerisch schreibt Luchmann: «Der grösste Teil der sogenannten Psychotherapie besteht heute aus strukturlosen Gesprächen: empathisch, freundlich, therapeutisch dekoriert. Aber inhaltlich substanzlos. Es wird geredet, getröstet, gebauchpinselt, aber nicht am realitätswidrigen Denken gearbeitet, das den Nährboden für Angststörungen, Panikattacken, Depressionen bildet.»
Gabi Rüttimann widerspricht: Diese Behauptung werde durch keine Studie gestützt und widerspreche den Ausbildungs- und Qualitätsstandards der heutigen Psychotherapie in der Schweiz. «Alle anerkannten Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten durchlaufen eine intensive, mehrjährige Weiterbildung.» Jede psychotherapeutische Methode arbeitee mit spezifischen Interventionen und Zielen.
Durchschnittlich genügen zehn Therapiestunden: Mit kognitiven Psychotherapie-Verfahren könnten die meisten Störungen in durchschnittlich zehn Stunden beseitigt werden, schreibt Luchmann und stellt fest: «Doch viele Patienten erleben jahrelange Sitzungen, ohne dass sich Grundüberzeugungen, Verhalten oder Lebensführung verändern.»
Kurzzeittherapie könne zum Beispiel bei spezifischen Angststörungen oder leichten depressiven Episoden sehr wirksam sein, erklärt Gabi Rüttimann. Es sei aber bekannt, dass komplexe, chronifizierte oder traumatisch bedingte Störungen eine langfristigere therapeutische Begleitung erforderten.
Bezahlte Plauderstunde: Dass Luchmann die Psychotherapie eine «bezahlte Plauderstunde» nennt, ist für den Berufsverband eine abwertende Verzerrung. Therapeutische Beziehung, empathische Gesprächsführung und emotionale Präsenz seien empirisch nachweisbare Wirkfaktoren, gerade bei komplexen psychischen Störungen, betont Gabi Rüttimann. «Dass sie in Behandlungen bewusst eingesetzt werden, ist kein Mangel, sondern Kern einer professionellen Berufshaltung. Die Wirksamkeit psychotherapeutischer Gespräche werde mit wissenschaftlich fundierten Methoden überprüft.
Patienten sollen Psychotherapien selber zahlen: Luchmann schlägt vor, dass Psychotherapien nicht mehr oder nicht mehr vollständig von der Krankenkasse übernommen werden sollen. Dies mit der Begründung: «Wer für die eigene Entwicklung bezahlt, beteiligt sich. Wer sich beteiligt, verändert sich.»
Rüttimann entgegnet, dass es für diese Aussage keine klare empirische Evidenz gebe. Es sei aber bekannt, dass Patienten, die sich eine Selbstzahlung nicht leisten können, ohne die Übernahme durch die Grundversicherung vom therapeutischen Versorgungssystem ausgeschlossen wären. «Beteiligungsansätze sind diskutabel als Teil eines Forschungsprojektes. Die Grundfinanzierung durch Krankenkassen muss aber bestehen bleiben», findet die ASP-Präsidentin.
Berufskollege Bernhard Wasem kontert
In einer Replik kritisiert der Zuger Psychotherapeut Bernhard Wasem die Auffassungen seines Berufskollegen: «Wer sich so eindeutig gegen die etablierte psychotherapeutische Versorgung positioniert, sollte mehr liefern als Eigenwerbung.» Besonders problematisch ist für Wasem, dass Patienten als bequem, therapieabhängig oder intellektuell träge dargestellt würden und Therapeuten als systemtreue Wohlfühlbegleiter.
Luchmann werbe für eine stark verkürzte, schriftbasierte Form der kognitiven Therapie – zehn Sitzungen, kein Praxisbesuch, kein persönlicher Kontakt. «Für bestimmte Personen – hochfunktionale, reflektierte Menschen in akuten Entscheidungskrisen – mag das durchaus hilfreich sein.» Doch für viele andere sei dieser Ansatz unzureichend.
Ähnliche Diskussion wie in der Physiotherapie
Was in der Psychotherapie nun diskutiert wird, war auch schon in der Physiotherapie ein Thema: Müssen sich Patienten für den Behandlungserfolg anstrengen oder reicht eine passive «Wellness-Therapie» mit Massagen und Wärmepackungen? Der Berufsverband Physioswiss findet: Passive Behandlungen gelten heute als unnütz. Deshalb hat Physioswiss vor anderthalb Jahren eine
Top-5-Liste von nicht empfehlenswerten Behandlungen herausgegeben. Dabei geht es um unnütze Massagen, Wärmebehandlungen, Ultraschall-Behandlungen und Behandlungen mit einer Motor-Bewegungsschiene.