Das Anordnungsmodell: Theorie klar, Praxis absurd

Seit Juli 2022 können Psychotherapinnen und -therapeuten auf eigene Rechnung über die Grundversicherung abrechnen. Doch das System stellt Pro-Forma-Kontrolle über Vertrauen und Respekt. Ein Erfahrungsbericht.

Gastbeitrag von Judith Biberstein, 8. Dezember 2025 um 23:00
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Demonstration für eine bessere psychotherapeutische Versorgung in Bern, 16. August 2025  |  Bild / Screenshot: «TeleBaern».
Psychologische Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten können seit dem 1. Juli 2022 selbstständig und auf eigene Rechnung via Grundversicherung tätig sein. Voraussetzung ist eine ärztliche Anordnung. Das tönt klar und verständlich. Zumindest in der Theorie.
In der Realität ist das Modell aber kompliziert und aufwändig. Sogar für viele Hausärztinnen, die die Behandlung anordnen und koordinieren, ist das System unüberschaubar.

Theorie (und Praxis): Ein Vergleich.

Die Hausärztin hat 15 Sitzungen angeordnet und dann nochmals 15, weil bei der Patientin eine psychische Erkrankung mit dringender Behandlungsbedürftigkeit vorliegt. Wenn 30 Sitzungen aufgebraucht sind (ich muss es im Auge behalten, damit nicht plötzlich die Patientin ohne Kostengutsprache dasteht) ist die Patientin leider noch nicht geheilt.
Ich schreibe einen Bericht und sende ihn der Hausärztin. (Was ich nicht mache, denn dort wüsste niemand, was damit zu tun ist).
Das Modell sieht vor, dass die Hausärztin eine psychiatrische Fachperson für die fachliche Expertise meiner Arbeit sucht. (Was sie nicht tut. Ich suche den Psychiater selbst, es ist oft knifflig, da auch diese überlastet sind).

Die Autorin

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Judith Biberstein ist Psychotherapeutin, Erwachsenenbildnerin und Supervisorin mit eigener Praxis in Bern. Sie leitet die Berner Zweigstelle des IBP-Zentrums für psychische Gesundheit und hat an verschiedenen Orten Lehraufträge, insbesondere als Dozentin und Ausbildnerin am IBP Institut für Integrative Körperpsychotherapie.
Sie schickt dem Psychiater meinen Bericht. (Was sie nicht tut. Ich drucke ihn aus, stemple und unterschreibe ihn, scanne ihn ein und versende ihn dem Psychiater).
Der Psychiater bestellt die Patientin zu einer Konsultation ein, um meine bisherige Arbeit und den Bericht mit seinem Expertenwissen zu überprüfen. Die Patientin ist davon möglicherweise verunsichert und muss stabilisiert werden, was oft knifflig ist.
Der Psychiater schreibt einige Worte zu meinem Bericht, dann sendet er der Hausärztin die ausgedruckte, gestempelte, unterschriebene und eingescannte Expertise zurück.
(Was er nicht tut, er schickt die Expertise mir, worauf ich alles zusammen an die Adresse der Hausärztin sende).
Die MPA der Hausärztin sendet dann die Berichte zusammen mit Stempel und Unterschrift der Hausärztin zur Prüfung dem Vertrauensarzt der Krankenkasse. (Manche MPAs senden sie auch zuerst wieder mir, dann sende ich alles zum Vertrauensarzt).
Der Vertrauensarzt muss die Kostengutsprache bewilligen. Manchmal geht es Monate, dann fragt die Hausärztin nach.
(Was sie nicht tut. Mir ist das nicht egal, da ich sonst theoretisch die Behandlung unterbrechen muss oder das Risiko eingehe, dass meine Rechnungen nicht bezahlt werden. Ich bitte also die Patientin, bei der Kasse anzurufen, um nachzufragen, wo es klemmt oder ich tue es für sie, wenn sie dazu nicht in der Lage ist).
Schliesslich sendet der Vertrauensarzt seinen Entscheid an die Hausärztin, mit Kopie an die Patientin. Die Hausärztin gibt mir dann den Auftrag zur Weiterbehandlung.
(Was sie nicht tut, ich erfahre meist über die PatientInnen, dass die Kostengutsprache bewilligt ist und für wie viele Stunden. Manchmal senden mir Krankenkassen freundlicherweise Kopien, auf denen meist nicht einmal mein Name steht).
Dies ist der psychotherapeutische Alltag, dies ist das Anordnungsmodell. Was kommt Ihnen da in den Sinn?

Es braucht dringend Anpassungen

Ergänzend ist zu erwähnen, dass Psychotherapeut:innen nach dem Master in Psychologie eine 50'000 bis 80'000 Franken teure, selbstfinanzierte vier- bis fünfjährige Weiterbildung absolvieren, während der sie zum Teil in den Kliniken anspruchsvolle unterbezahlte Arbeit mit akut psychisch Kranken verrichten.
Im Weiteren ist zu erwähnen, dass die Psychotherapeutinnen in Bezug auf ihre finanzielle Situation in latenter Unsicherheit leben, da sie mit einem provisorischen Tarif abrechnen. Einerseits wissen sie nicht, wie der definitive Tarif sein wird und wann dieser gelten wird, da sich die Tarifverhandlungen seit Jahren ergebnislos hinziehen. Andererseits arbeiten sie unter der Bedrohung, dass sie Rückzahlungen rückwirkend bis zum Juli 2022 leisten müssten, falls die Verhandlungen eine Tarifsenkung zur Folge hätten. Dies wurde von den Krankenkassen bereits angekündigt.
Das Anordnungsmodell hat dazu geführt, dass mehr psychisch kranke Menschen Psychotherapie in Anspruch nehmen. Doch braucht es dringend Anpassungen, damit die Fachleute angesichts des teuren, kompetenzmissachtenden Administrativerfahrens nicht aus der Arbeit mit chronisch oder schwer erkrankten Menschen aussteigen.
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