Weshalb Big Data eine grosse Enttäuschung werden könnte

Damit die neuen Informations-Technologien im Gesundheitsbereich wirklich erfolgreich sein können, braucht es vor allem verständliche Daten. Vier Gründe, weshalb der Weg bis dahin noch weit ist. Von Pascal Fraenkler.

, 23. November 2015 um 11:00
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«I don’t believe in Big Data, I believe in understandable data» – oder auf Deutsch: Daten müssen verständlich sein und sie sollen dem Leser ermöglichen, daraus Schlüsse zu ziehen. Diesen sehr zutreffenden Spruch habe ich kürzlich einem Twitter-Post entnommen.
Wir alle hinterlassen unsere Spuren im Internet. Fitness-Apps erfassen unsere Bewegungen und unseren Kalorienverschleiss, andere prüfen, ob wir uns vernünftig ernähren. Es gibt Apps, die uns erlauben, den seit Kindheit angeborenen Leberfleck in Bezug auf Hautkrebs zu prüfen. Unsere Besuche auf Internetseiten werden akribisch dokumentiert: Wenn ich mich im Netz über den Herzinfarkt informiere, ist Google sofort darüber informiert und weiss auch schon, welches Produkt mir bei der Behandlung derselben Krankheit nützlich sein kann.
Pascal Fraenkler ist Gründer und CEO von Eesom, der grössten Patienten-Informationsplattform der Schweiz. In seiner Karriere war der studierte Betriebsökonom HWV unter anderem in den Geschäftsleitungen von PharmaSuisse und der RehaClinic.
Unsere Gene lassen sich entschlüsseln und vergleichen. Man könnte noch tausend weitere Beispiele anführen. Über uns und unsere Gesundheit werden täglich Daten erfasst.
Grosse Konzerne wie IBM oder Apple geraten ins Schwelgen, wenn sie die rosige Zukunft beschreiben, in welche unsere Gesundheit von Computern gemanagt wird. Grosse Rechner sammeln Daten und werten diese aus, stellen Diagnosen und verschreiben die notwendigen Therapien. Nichts geht mehr schief, weil der Rechner allwissend ist und zum gegebenen Zeitpunkt das Notwendige unternimmt, um vorzubeugen. Diese Vision ist sehr verlockend, steckt doch letztlich die Hoffnung darin, die ein jeder Mensch in sich trägt – nämlich gesund alt zu werden.
Sieht die Zukunft unseres Gesundheitswesens tatsächlich so aus? Kaum. Es gibt verschiedene Gründe, die dagegen sprechen:

1. Der menschliche Faktor

Wenn ich sämtliche für meine Gesundheit relevanten Daten erfassen wollte, dass daraus Schlüsse gezogen werden, so ist es nicht ausreichend, mittels App die täglichen Schritte zu zählen und den Kalorienverbrauch zu dokumentieren. Um gültige Aussagen über den Gesundheitszustand und über die individuellen Wechselwirkungen im Körper machen zu können, müsste man viele weitere Werte regelmässig erfassen: Blutdruck, Körpertemperatur, Puls, Gewicht, Cholesterin, die Einnahme von Medikamenten et cetera – um hier nur einige zu nennen.
Für chronisch kranke Patienten kommt dann eine Vielzahl zusätzlicher Werte dazu, die erforderlich sind. Sind Sie bereit, diesen täglichen Aufwand auf sich zu nehmen? Würden Sie all die vielen Apps auf Ihrem Smartphone installieren, die nötig sind? Wollen Sie die entsprechenden Geräte anchaffen und sich täglich 24 Stunden selber zu überwachen?

2. Das Chaos der Systeme 

Dass eine grosse Anzahl von Apps und Monitoring-Geräten notwendig wäre, um eine vollumfängliche Überwachung sicherzustellen – diese Tatsache macht es auch sehr schwierig, die generierten Daten zu strukturieren und in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Die meisten Hersteller verwenden unterschiedliche Technologien und Software.
Zwar ist es mittlerweile unter Anwendung von Bus-Systemen möglich, Daten zwischen verschiedenen Technologien auszutauschen. Dennoch: Die Tatsache, dass die Daten von tausenden unterschiedlichen Herstellern zusammengeführt werden müssen, birgt einen unermesslichen Koordinationsaufwand.

3. Die Trägheit des Papiers

Ein absolut wesentlicher Faktor für die Beurteilung des Gesundheitszustandes ist die Krankengeschichte. Informationen über frühere Erkrankungen und Therapien spielen eine zentrale Rolle. Diese Daten sind in der Regel dokumentiert, in den meisten Fällen jedoch in Papierform.
Die Mehrheit der Ärzte dokumentiert die Krankengeschichte wie bereits seit Jahrhunderten auf Papier. Dies trifft nicht nur auf einzelne Ärzte, sondern auf eine Vielzahl von Kliniken zu, die nach wie vor die Akte in Papierform bevorzugen.

4. Die Macht des Individuums

Das Wesen des Menschen lässt kaum mittels einer Ansammlung von Daten definieren. Viele wesentliche Faktoren, die einen Menschen ausmachen, lassen sich nicht mittels App erfassen und analysieren: Charakter, psychische Verfassung, Wertvorstellungen, Glaubensgrundsätze, Erfahrungen aus der Vergangenheit. Diese und viele weitere Faktoren, die ein Individuum ausmachen, sind im Rahmen der Prävention und der Durchführung von Therapien von zentraler Bedeutung.
«Technologie hilft, die Stellen im Gesundheitswesen sicherer zu machen»: Bertalan Meskó ist ein Arzt, der hauptberuflich die Zukunftstrends der Medizin untersucht. Das macht ihn enorm optimistisch. Das Interview.
Es ist wissenschaftlich unbestritten, dass hier der Person des Arztes oder des Therapeuten eine unwahrscheinlich wichtige Rolle bei der Beratung und bei der Wahl der adäquaten Therapie zukommt. Den Patienten als Menschen zu erfassen und zu kennen und auf seine Bedürfnisse einzugehen, ist eine Aufgabe, die bislang noch kein Computer zu leisten vermag.
Auch in den folgenden 20 Jahren wird deshalb sicher die ärztliche Betreuung und Begleitung weiterhin im Vordergrund stehen. Dass dem Arzt dabei durch die Verfügbarkeit von Gesundheitsdaten wesentlich bessere Möglichkeiten der Betreuung zur Verfügung stehen, ist unbestritten. Die Herausforderung der IT- Industrie wird sein, diese Daten im Rahmen einer logischen, chronologischen und verständlichen Struktur zusammenzuführen und zu komprimieren. Der Weg von «Big Data» zu «Understandable Data» ist allerdings noch weit.
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