«Rosa Viagra»: Wie die Politik Pillen macht

Die amerikanische Aufsichtsbehörde FDA hat in dieser Nacht das erste Medikament gegen weibliche Lustlosigkeit bewilligt. Es ist das Ende eines Lobby-Kampfes.

, 19. August 2015 um 09:00
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Die Sache ist entschieden: Die FDA bewilligte gestern zum ersten Mal eine «Lustpille» für die Frau – und so wird es wohl nur noch eine Frage der Zeit sein, bis Addyi auch in den europäischen Apotheken auftaucht. Addyi ist der Name, unter dem der Pharmakonzern Sprout den Wirkstoff Flibanserin auf den Markt bringen wird.
Zwingend war der Entscheid nicht. Wissenschaftlich war die Zulassung dieses Stoffes umstritten. Im Expertenpanel, welches für die FDA den Entscheid vorbereitete, sprachen sich 18 Stimmen für eine Bewilligung aus, 6 votierten dagegen.

Zweimal abgelehnt, jetzt doch gut

Dann geschah etwas Sonderbares: Drei der beteiligten Panelists machten den Ablauf öffentlich. In einem Aufsatz im «Journal of the American Medical Association» brachten sie Warnungen an und wiesen vor allem auf den öffentlichen Druck hin, der in der Pillen-Frage gemacht worden war. Auch die Expertengruppe habe ihn gespürt.

Walid F. Gellad, Kathryn E. Flynn, G. Caleb Alexander: «Evaluation of Flibanserin: Science and Advocacy at the FDA», Jama, Juli 2015.

Die drei Ärzte Walid F. Gellad, Kathryn E. Flynn und G. Caleb Alexander erinnerten daran, dass der Wirkstoff bereits zweimal vor der FDA gescheitert war. 

  • Erst hatte der deutschen Pharmakonzern Boehringer Ingelheim die Bewilligung beantragt, nachdem man bei einem als Antidepressivum gedachten Mittel eine libidoverstärkende Wirkung festgestellt hatte. Die FDA lehnte den Antrag 2010 ab, mit der Begründung, dass einerseits die luststeigernde Wirkung ungenügend belegt sei und andererseits die Verträglichkeit noch eher schlecht sei.
  • Bei einem zweiten Versuch 2013 stellte die FDA zwar eine gewisse libidinöse Wirkung fest: 8 bis 13 Prozent der klinischen Patientinnen gaben bei mindestens einem sexuellen Aspekt eine nennenswerte Verbesserung an. Doch auf der Gegenseite wurden erhebliche Nebenwirkungen festgemacht, etwa erhöhter Blutdruck und Schlafstörungen. Wieder entschied die Behörde auf Njet.

Ein Test mit fast nur Männern

Bemerkenswert sei nun – so Gellad, Flynn und Alexander –, dass der Arzneimittelhersteller Sprout beim dritten Anlauf gar keine neuen Effizienzdaten vorlegte; Sprout Pharmaceuticals hatte das Patent von Boeringer Ingelheim übernommen und beantragte jetzt erneut die Zulassung als Mittel für Frauen mit Sexualfunktionsstörungen. 
Mit anderen Worten: Der Stoff wirke heute auch nicht besser als zuvor. Der neue Antrag biete lediglich zusätzliche Sicherheits-Daten, etwa eine Studie, die belegt, dass die Patientinnen am nächsten Tag beim Autofahren nicht eingeschränkt sind. Oder einen Test, laut dem auch mit Alkohol keine verstärkten Nebenwirkungen spürbar werden (wobei dies mit 25 gesunden Freiwilligen getestet wurde, darunter bloss zwei Frauen).
Die Frage lautet also: Warum schwenkte das Expertengremium nach dem Nein von 2010 und 2013 im Jahr 2015 zu einem Ja? Und warum folgte jetzt die FDA? 
Die drei Universitätsforscher erklären dies mit dem dem öffentlichen Druck, der insbesondere auch über Social-Media-Kanäle aufgebaut worden war.

Eine Pille der Emanzipation?

Denn nach dem abschlägigen Bescheid von 2013 wurde eine Lobbygruppe namens «Even the Score» gegründet. Ihr offizielles Anliegen: Sie forderte das Recht der Frauen ein, auf dem Lustpillen-Feld nachzuziehen.
Bis heute haben sich etwa 25 Organisationen der Aktion angeschlossen, darunter der Verband der Hebammen-Fachschulen oder die Medical Association der hispanischen Bevölkerung. Gestartet wurde «Even the Score» allerdings von einem Berater des Herstellers von Flibanserin, und dieser zog mit den bewährten Mitteln des amerikanischen Business-Lobby-Wesens ins Feld – ob mit Briefen an Kongressmitglieder, mit Briefen von Kongressmitgliedern an die FDA oder mit einer Klage gegen die FDA.
Ein Kernargument dabei: Es gibt mittlerweile zwei Dutzend Medikamente gegen die männliche Lustlosigkeit, aber immer noch keines für die Frau.
Und so erschien Flibanserin nun, im Sommer 2015, zuerst einmal als Gender- und Emanzipationsfrage – wo die eine Seite von einem notwendigen «Fight for female Viagra» sprach. Und die Gegenseite einschränkte, dass diese Pille jetzt auch nicht so zwingend sei für die Emanzipation.

Ja was denn nun: HSDD? FSIAD?

Auf der streng medizinischen Seite war die Sache ja ebenfalls diffus. Obwohl unbestritten ist, dass sich hier ein Leiden auftut, lässt sich die weibliche Libido nicht so einfach nach dem Up and Down-Prinzip festmachen wie beim Mann.
So wurde das ärztliche Klassifikationssystem gerade während des Bewilligungsprozesses von Flibanserin geändert: Die gängigste Form der Lustlosigkeit war zuvor offiziell als HSDD (Hypoactive Sexual Desire Disorder) definiert – im Juli 2013 änderte die Standesorganisation der Psychiater das entsprechende System und sprach künftig von FSIAD (female sexual interest/arousal disorder). Es ging also jetzt um eine Störung des sexuellen Interesses oder der Erregung – nachdem zuvor von einem «geringaktiven sexuellen Interesse» die Rede gewesen war.
Nach dem offenen Schreiben der FDA-Experten schwelte der wissenschaftliche Streit weiter. Die ehemalige Leiterin der Abteilung «Women's Health» der FDA, Susan Wood, meldete sich zu Wort und meinte: «Ich denke, dass die FDA den öffentlichen Druck spürt, weil so viele Falschinformationen gestreut werden.» 
Andererseits setzte sich eine Gruppe von sechzig Ärzten in einem offenen Brief für die Zulassung ein. Flibanserin sei inzwischen seit 12 Jahren an 11'000 Frauen getestet worden – das müsse nun genügen. An erster Stelle nannten diese Mediziner freilich erneut das Argument, dass 26 Arzneien gegen männliche Impotenz bewilligt seien, aber keines für ähnliche Defizite bei der Frau.

Nicht bei hohem Blutdruck!

Und so musste der Entscheid in einem politisch aufgeladenen Umfeld fallen. Die drei FDA-Spezialisten monierten genau diesen Punkt: Auch im Expertenpanel, an dem sie beteiligt waren, sei weniger über die Validität von neuen Daten oder über die möglichen Risiken einer Off-Label-Verwendung bei breiten Bevölkerungsschichten diskutiert worden – umso mehr aber über gesellschaftliche Fragen.
Die wissenschaftlichen Einwände fanden allerdings auch ihren Niederschlag im amtlichen Rezept: Die Aufsichtsbehörde verlangt zum Beispiel, dass auf der Schachtel eine Warnung angebracht wird, die vor Schwierigkeiten bei hohem Blutdruck oder bei gleichzeitigem Alkoholgebrauch warnt.
Und die Frage, ob die Pille denn nun endlich ein Mittel gegen weibliche Lustlosigkeit ist? Die werden die Kundinnen selber entscheiden müssen.
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