Nicht jeder Tote ist einer zu viel

Jeder Tote ist einer zu viel. Jedes Menschenleben ist gleich viel wert. Ist das wirklich so? Ich erhebe Einspruch - aus eigener Erfahrung.

, 29. Januar 2021 um 16:05
image
  • coronavirus
  • kommentar
  • politik
Mein Vater und zwei Jahre später auch meine Mutter, beide gläubige Katholiken, verbrachten ihre letzten Monate in einem Pflegeheim. Ausgerechnet dort, wo sie nie hingehen wollten. Beide hätten nichts dagegen gehabt, mit Corona zu sterben. Ich wage zu behaupten, sie wären froh gewesen, durch das Virus erlöst zu werden. Zwei Jahre vor ihrem Tod brach unsere Mutter bei einem Sturz den Oberschenkelhals. Da wollte sie sich nach der Ops anfänglich trotz hoher Blutzuckerwerte partout kein Insulin spritzen lassen. Sie wollte gehen.
Die heutige Pandemie böte Gelegenheit, über solche Fragen zu reden. Über Sinn und Zweck, mit jedem erdenklichen medizinischen und pharmazeutischen Fortschritt das Leben zu verlängern. Stattdessen liefern sich Statistiker, Virologen, Epidemiologen und vor allem Bundeshausjournalisten und andere Erbsenzähler einen Glaubenskrieg, wie weit die Ü-65 von einer Übersterblichkeit heimgesucht werden.
«Jeder Tote ist einer zu viel», sagte Gerhard Pfister, Parteipräsident der CVP, die sich heute Mitte nennt. Er ist Politiker. Dass er das sagt, ist verständlich. Ob er das auch so meint, bleibt offen. Ruth Humbel, Nationalrätin aus dem Aargau und in der gleichen Partei wie Pfister, sagte in der «Arena» des Schweizer Fernsehens, jeder Tod bringe zwar Leid, aber nicht jeder Tod sei eine Katastrophe, jeder müsse mal sterben. Nachdem sie das gesagt hatte, musste sie einen Shitstorm über sich ergehen lassen.
«Leben retten um jeden Preis?» fragte die NZZ am 12. Januar. Autor ist der Theologe Peter Ruch. «Zunächst ist festzuhalten», schreibt er, «dass niemals Menschenleben, sondern stets Lebensjahre gerettet werden». Davon ist jedoch in der öffentlichen Debatte kaum die Rede.
So muss wohl die Frage erlaubt sein, weshalb bei knappem Vorrat an Impfdosen 90-Jährige als erste geimpft werden, wie das Luzern publikumswirksam vorgemacht hat. Nur um kurz nach einer Impfung einen Toten zu beklagen, der angesichts seiner Morbidität auch sonst gestorben wäre. Das Interessante daran: Kaum jemand wagt das zu hinterfragen. Es ist ein Tabu.
Und wenn wir schon bei meiner Familiengeschichte sind. Meine Mutter, Jahrgang 1916, wurde mit zwei Jahren Halbwaise. Ihr Vater starb an der Spanischen Grippe. Ich habe nie so oft an ihn gedacht wie in der heutigen Zeit.
Vielleicht auch deshalb werfe ich die Frage auf, ob es nun wirklich kein Unterschied ist, ob junge Menschen, eben Vater oder Mutter geworden, durch eine Seuche dahingerafft werden, oder ob bettlägerige Pflegeheimbewohner mit Corona sterben, die auf die Erlösung warteten.
Artikel teilen

Loading

Comment

2 x pro Woche
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

oder

Mehr zum Thema

image

Monsieur Prix mag das Réseau de l’Arc

Preisüberwacher Stefan Meierhans schlägt vor, dass die Politik viel stärker auf grosse Gesundheitsnetze mit festen Budgets setzt.

image

Keine Zulassungserleichterung für Orphan Drugs

Eine schnellere Zulassung für Arzneimittel bei seltenen Krankheiten hätte laut dem Bundesrat hohe Kostenfolgen.

image

Kinder- und Jugendpsychiatrie: Nun soll's der Bundesrat richten

Der Nationalrat verlangt, dass der Bundesrat in die Kompetenz der Kantone und der Tarifpartner eingreift.

image

Forschung muss Frauen und Alte mehr berücksichtigen

Der Bund regelt die Forschung an Menschen stärker. Künftig sollen mehr Frauen und Alte teilnehmen.

image

Braucht es ein Bundesgesetz über die Gesundheit?

Ja, findet die Akademie der Medizinischen Wissenschaften – und formuliert gleich einen Vorschlag: So sähen ihre Paragraphen aus.

image

Bei der Gesundheit gibt es keine Bundes-Subventionen zu kürzen

Die Eidgenössische Finanzkontrolle will bei den Subventionen sparen. Der Gesundheitsbereich wird aber vom Bund kaum subventioniert.

Vom gleichen Autor

image

Arzthaftung: Bundesgericht weist Millionenklage einer Patientin ab

Bei einer Patientin traten nach einer Darmspiegelung unerwartet schwere Komplikationen auf. Das Bundesgericht stellt nun klar: Die Ärztin aus dem Kanton Aargau kann sich auf die «hypothetische Einwilligung» der Patientin berufen.

image

Studie zeigt geringen Einfluss von Wettbewerb auf chirurgische Ergebnisse

Neue Studie aus den USA wirft Fragen auf: Wettbewerb allein garantiert keine besseren Operationsergebnisse.

image

Warum im Medizinstudium viel Empathie verloren geht

Während der Ausbildung nimmt das Einfühlungsvermögen von angehenden Ärztinnen und Ärzten tendenziell ab: Das besagt eine neue Studie.