Jedes Jahr 6 Millionen unnötige Kaiserschnitte

Eine in «The Lancet» publizierte Analyse weist auf eine bedenkliche Übernutzung von medizinischen Leistungen hin. Sie zeigt aber auch eine Unternutzung, zum Beispiel in der Palliativmedizin.

, 10. Januar 2017 um 08:04
image
  • choosing wisely
  • palliativmedizin
  • forschung
Medizinische Leistungen werden auf der ganzen Welt routinemässig sowohl zu viel als auch zu wenig genutzt. Dies führt nicht nur zu einer Ressourcen- und Geldverschwendung, sondern auch zu menschlichem Leid. 
So lautet das Fazit von 27 Wissenschaftlern und Autoren, die auf der ganzen Welt Studien zum Thema medizinische Über- und Unterbehandlung ausgewertet haben. Die Ergebnisse wurden nun in einer Serie von Artikeln und Kommentaren im Fachjournal «The Lancet» publiziert. 

Gleichzeitig Über- und Unterversorgung

Dabei ist es nicht so, dass arme Länder an Unterversorgung leiden und reiche an Überversorgung. In allen Länder treten beide Probleme gleichzeitig auf: Kostengünstige Therapien werden zu wenig genutzt, teure Leistungen mit wenig oder gar keinem Nutzen gehören dagegen zum Standard. Die Diskrepanz tritt auch innerhalb von Organisationen, Spitälern und sogar einzelnen Patienten auf. 
Übernutzung wird definiert als «medizinische Versorgung, die mehr Schaden als Nutzen anrichtet», Unternutzung als «Unmöglichkeit, eine effektive und erschwingliche Behandlung sicherzustellen». 
Shannon Brownlee, Adam Elshaug, Vikas Saini et al.:


Beispiele für Überbehandlung

  • In der Schweiz sind 13 Prozent der Gebärmutterentfernungen (Hysterektomien) unnötig, in den USA liegt die Rate je nach Studie zwischen 16 und 70 Prozent. 
  • In der Schweiz sind 14 Prozent der Darmspiegelungen und 49 Prozent der Magenspiegelungen vergebens. 
  • In China ist die Hälfte des Antibiotikaeinsatzes zwecklos.
  • In Spanien bringt ein Viertel der künstlichen Knie- und Hüftgelenke nichts. 
  • Kaiserschnittraten steigen überall markant an, unabhängig davon, ob die Operation angezeigt ist oder nicht. Jahr für Jahr gibt es weltweit über 6 Millionen unnötige Kaiserschnitte, die Hälfte davon in Brasilien und China. 
  • Schilddrüsenkrebs wird markant überdiagnostiziert, was zu vielen vergeblichen Behandlungen führt.
  • In allen Ländern ist der Einsatz von Antibiotika zur Behandlung von Infektionen der Atemwege zu hoch. In vielen europäischen Ländern erhält rund die Hälfte der Patienten unnötige Antibiotika gegen Atemwegsinfektionen. Auch werden in Europa zu häufig Antibiotika gegen akuten Husten verabreicht.
  • In Ländern wie Kolumbien wird das Krebsmittel Bevacizumab nach wie vor verbreitet eingesetzt und treibt die Gesundheitskosten in die Höhe, obschon die britischen und amerikanischen Zulassungsbehörden von der Arznei abraten. Einen ähnlichen Fall gibt es in Rumänien mit einem Hepatitis-C-Medikament.
  • Mammografien werden bei Frauen mit Brustkrebs, die nur noch eine kurze Lebenserwartungen haben, zu häufig eingesetzt. 

Beispiele für Unterbehandlung

Neben der Übernutzung von medizinischen Leistungen gibt es auch viele Fälle von Unternutzung. So haben in Afrika 40 Prozent der Krebspatienten keinen Zugang zu Schmerzmittel
Auf der ganzen Welt gibt es eine Diskrepanz zwischen intensiven medizinische Behandlungen am Ende des Lebens und Palliativmedizin. Obschon es die meisten Menschen es vorziehen, zu Hause zu sterben, verbringt die Hälfte der Menschheit die letzten Tage in einem Spital. Dabei wird am Lebensende viel zu häufig Intensivpflege angeordnet. Das gleiche gilt für aggressive Krebsbehandlungen bei todkranken Patienten. 
Auch der Einsatz von Ernährungssonden ist umstritten. In vielen Ländern wird die Mehrheit der Krebspatienten in den letzten Tagen unnötig künstlich ernährt. Derweil wird nur in den wenigsten Fällen Palliativmedizin angeboten und auch angewendet.

«Gier»

Vikas Saini, einer der Erstautoren der Studie und Präsident des US Lown Institute in Boston, führt das «System mangelhafter Gesundheitsversorgung» auf drei Faktoren zurück: «Gier, sich widersprechende Interessen und unzureichende Aufklärung». Vor allem ein Ende der Überversorgung sei nicht abzusehen.
Die Studie zeige die wichtigsten Herausforderungen auf: Überbehandlungen zu messen und klare Beweise für ihre Verbreitung im System und in der Bevölkerung der einzelnen Länder zu liefern. Um die Versorgung effizienter zu machen, müssten dann die Behandlungen viel besser auf die Bedürfnisse der Patienten abgestimmt werden.
Siehe auch:


Artikel teilen

Loading

Comment

2 x pro Woche
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

oder

Mehr zum Thema

image

Hirntumor-Risiko für Kinder: Entwarnung

Schuld könnten die kleinen Fallzahlen sein: Dass Kinder im Berner Seeland und im Zürcher Weinland mehr Hirntumore haben, ist wohl das Zufalls-Ergebnis einer Studie.

image

Wenn die KI sagt, dass es Zeit ist fürs Hospiz

In einem US-Spital läuft ein heikler Test: Ein Künstliche-Intelligenz-Programm eruiert Patienten für Palliative Care.

image

Luzerner Palliativ-Pionier erhält Anerkennungspreis

Rudolf Joss hat sich stets für die Würde am Lebensende eingesetzt. Dafür wurde der Onkologe nun ausgezeichnet.

image
Gastbeitrag von Yvonne Gilli

«Das Leben wird nicht um jeden Preis verlängert»

Die FMH-Präsidentin wehrt sich gegen den Eindruck, dass am Lebensende viele verzichtbare Behandlungen durchgeführt werden.

image

Die verzerrte Darstellung der Palliativmedizin

Auf Agenturfotos wird zu schön gestorben: Das vermittle ein falsches Bild vom Tod, sind Experten überzeugt.

image

Schweizer Hoffnung in der Krebsmedizin

Ein neues Medikament gegen das unheilbare Glioblastom schafft Hoffnung: bei manchen Patienten schrumpfte der Tumor um bis zu 90 Prozent.

Vom gleichen Autor

image

Pflege: Zu wenig Zeit für Patienten, zu viele Überstunden

Eine Umfrage des Pflegeberufsverbands SBK legt Schwachpunkte im Pflegealltag offen, die auch Risiken für die Patientensicherheit bergen.

image

Spital Frutigen: Personeller Aderlass in der Gynäkologie

Gleich zwei leitende Gynäkologen verlassen nach kurzer Zeit das Spital.

image

Spitalfinanzierung erhält gute Noten

Der Bundesrat zieht eine positive Bilanz der neuen Spitalfinanzierung. «Ein paar Schwachstellen» hat er dennoch ausgemacht.