Uni Basel: Neue Methode soll medizinische Gutachter unterstützen

Arbeitsunfähig oder arbeitsfähig? Zwei Gutachter, zwei unterschiedliche Meinungen. Basler Forscher wollen dem nun Abhilfe schaffen: mit strukturierten Begutachtungsprozessen.

, 26. Januar 2017 um 13:00
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Geht es um die Beurteilung von IV-Ansprüchen und somit um die Arbeitsfähigkeit, sind sich Gutachter oft uneinig. Wissenschaftler der Universität Basel und des Unispitals (USB) haben diese Zerrissenheit unter Gesundheitsfachleuten nun in einer Meta-Studie aus 23 Analysen wissenschaftlich unter die Lupe genommen. 
Eines der Resultate: «Weltweit wird rund die Hälfte aller Invaliditätsansprüche aufgrund unabhängiger medizinischer Gutachten abgelehnt», sagt Regina Kunz, Professorin für Versicherungsmedizin an der Uni. Die Leiterin Insurance Medicine am USB stellt fest, dass sich die Experten oft nicht einig seien, ob jemand arbeitsunfähig sei oder nicht.

Nachteil für Patienten

Medizinische Gutachten werden laut Kunz oft zur Einschätzung einer Arbeitsunfähigkeit eingesetzt. Dies habe weitreichende Konsequenzen für Arbeitnehmer, die ihre Arbeitsfähigkeit nach einer Krankheit oder einem Unfall eingeschränkt sehen. 
Anders formuliert: Seit einiger Zeit stehen IV-Gutachten generell in der Kritik, nicht «fair» zu sein.
Ein Vorwurf, den auch schon das Bundesgericht gestützt hatte. So müssen laut Gerichtspraxis die Aufträge für eine ärztliche Abklärung nicht mehr direkt an die Gutachter vergeben werden, sondern nach dem Zufallsprinzip.

«Lotterie»: Sind IV-Gutachten voraussagbar?

Gewähr für ein «faires» Verfahren habe man dennoch nicht, wie David Husmann, Co-Präsident der Rechtsberatungsstelle für Unfallopfer und Patienten, vor kurzem gegenüber SRF sagte. 
Dort werden IV-Gutachten sogar als «Lotterie» bezeichnet. Bei manchen Gutachter-Stellen (Medas) sei die Chance auf eine IV-Rente höher – im Tessin offenbar fast dreimal so hoch wie im Kanton Schwyz.

81 Millionen Gutachter-Kosten

IV-Gutachten seien sogar voraussagbar, behaupten Anwälte in einem Bericht in der «Solothurner Zeitung». Je nach Gutachter, den die IV-Stelle beauftragt habe, könne man den Klienten voraussagen, wie der Entscheid ausfallen werde. 
Jürgen Barth, Wout E.L. de Boer, Jason W. Busse, Jan L. Hoving, Sarah Kedzia, Rachel Couban, Katrin Fischer, David von Allmen; Jerry Spanjer, Regina Kunz: «Inter‐rater agreement of disability evaluation: A systematic review of reproducibility studies», in: «BMJ», Januar 2017. 
Eine offizielle Statistik, um dies zu beweisen oder zu widerlegen, gibt es nicht. Immerhin: Für IV-Gutachten zahlt der Bund pro Jahr insgesamt 81 Millionen Franken Steuergelder. Das Bundesamt für Sozialversicherung BSV will die Zahlen zu den Gutachten eventuell wissenschaftlich analysieren, nachdem es seit 2015 keine offiziellen Zahlen mehr publiziert.

«Unsere Ergebnisse sind beunruhigend»

Für Jason W. Busse von der McMaster Universität in Kanada, Mitautor der Basler Studie, ist klar: «Kein Gutachten ist stichhaltig, solange es nicht zuverlässig ist – das heisst solange es nicht misst, was es zu messen vorgibt».
«Unsere Ergebnisse sind beunruhigend», erklärt er weiter. Patienten benötigten eine valide Einschätzung – einerseits, um zu vermeiden, dass es bei Erwerbsersatzleistungen zu Verzögerungen komme, und anderseits, um durch eine angemessene Betreuung eine anhaltende Arbeitsunfähigkeit zu verhindern.

Strukturierte Begutachtungsprozesse

Was also tun? Die grosse Uneinigkeit zwischen den Gutachtern ist laut den Studienautoren teils auf das Fehlen gültiger Standards zurückzuführen. «Wir haben Hinweise darauf gefunden, dass strukturierte Begutachtungsprozesse die Zuverlässigkeit der Beurteilungen verbessern können», so Regina Kunz.
Sie hat die Studie zusammen mit anderen Forschenden aus der Schweiz, den Niederlanden und Kanada nun im Fachblatt «BMJ» publiziert. Ein Fazit: Es sollten dringend Instrumente und strukturierte Ansätze entwickelt und erprobt werden, welche die Bewertung der Arbeitsunfähigkeit verbessern.

Verfahren für psychische Beschwerden getestet

Im Rahmen einer Studie hat das Forscherteam nun für Menschen mit psychischen Beschwerden eine neue Methodik entwickelt und getestet. Im Vordergrund steht eine funktionsorientierte Begutachtung.
Die Studie wird vom Schweizerischen Nationalfonds, dem Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) und der Schweizerische Unfallversicherung Suva finanziert.  Die Ergebnisse sollen demnächst vorgestellt werden. 

Unterschiede zwischen den Gutachter-Stellen

Anteil rentenberechtigter Patienten (2014)
  • SAM Bellinzona 58 Prozent
  • Cemed Nyon 56 Prozent
  • ZMB Basel 51 Prozent
  • MEDAS Interlaken 44 Prozent
  • MEDAS Zentralschweiz Luzern 44 Prozent
  • SMAB Bern 38 Prozent
  • Medaffairs Basel 37 Prozent
  • SMAB St. Gallen 31 Prozent
  • PMEDA Zürich 28 Prozent
  • Corela Genf 25 Prozent
  • ZIMB Schwyz 22 Prozent
Quelle: SRF
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