Frankreich gegen Roche: Im Avastin-Streit kommt es zum Showdown

Darf man ein Medikament neu einsetzen, weil dies günstiger kommt? Frankreich will das Roche-Krebsmedikament Avastin als Augenheilmittel bewilligen. Doch jetzt wirft sich die vereinte europäische Pharmaindustrie in die Bresche – und klagt dagegen vor der EU-Kommission.

, 7. September 2015 um 06:11
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Seit letzter Woche ist es soweit: In Frankreich kann Avastin von Roche offiziell als Augenheil-Mittel eingesetzt werden – mit Segen der Aufsichtsbehörde ANSM. Die Regierung Hollande hatte im August die Grundlagen dafür geschaffen und damit dem seit gut sechs Jahren schwelenden Streit neuen Zunder gegeben.
Denn Avastin, entwickelt zur Tumorbekämpfung, hat in Europa bislang keine Zulassung für den Einsatz gegen die altersbedingte Makuladegeneration AMD. Doch schon vor fast zehn Jahren hatten erste Mediziner erkannt, dass die Blockadewirkung des Tumorbekämpfungs-Mittels auch bei AMD wirkt.

Ein Bruchteil des Preises

Damit wird Avastin zum Konkurrenten von Lucentis, dem führenden AMD-Mittel; dieses wurde ebenfalls im Hause Roche/Genentech entwickelt, in Europa obliegt seine Vermarktung allerdings Novartis. Der entscheidende Punkt: Die zur Therapie notwendige Dosis Avastin kostet einen Bruchteil von Lucentis – in Frankreich liegt das Verhältnis bei etwa 1 zu 30 (in der Schweiz sogar eher bei 1 zu 50). 
Logischerweise haben also weder Roche noch Novartis ein Interesse daran, dass Avastin als AMD-Medikament eingesetzt wird. Weshalb sich der Basler Konzern auch nie darum bemühte, das Tumor-Mittel für Augenheil-Anwendungen bewilligen zu lassen.

Das Fass ist offenbar voll

Die französische Regierung hat nun aber errechnet, dass das Gesundheitswesen durch eine gezielte Off-Label-Verwendung von Avastin etwa 200 Millionen Euro sparen könnte. Gesundheitsministerin Marisol Touraine sprach von einer «Monopolsituation» bei Lucentis, die für Patienten wie für die Krankenversicherung besonders teuer sei. Damit soll nun Schluss sein: Frankreichs Krankenkassen vergüten ab sofort den Einsatz von Off-Label-Einsatz von Avastin bei AMD. Zuvor hatte bereits die italienische Regierung eine ähnliche Lockerung verfügt.
Mit Frankeich, immerhin fünftgrösster Pharmamarkt der Welt, ist das Fass aber offenbar voll: Der Avastin-Lucentis-Streit wird zum Modell-Stück, zu einem Exempel. 
Roche rief umgehend den Conseil d'Etat an, der in Frankreich als oberstes Verwaltungsgericht fungiert; sein Entscheid wird bis Mitte Monat erwartet. Gleichzeitig schlossen sich die drei Industrieverbände der europäischen Pharmaindustrie zusammen: Die European Federation of Pharmaceutical Industries and Associations (EFPIA), die European Confederation of Pharmaceutical Entrepreneurs (EUCOPE) und die European Association for Bioindustries (EuropaBio) kündigten soeben gemeinsam an, dass sie bei der EU-Kommission Klage einreichen werden gegen Frankreich.

Darf man rein ökonomisch argumentieren?

Ein entscheidender Punkt: Off-Label-Verwendungen beziehungsweise deren Bezahlung durch die Kassen waren bislang bloss erlaubt, wenn keine Alternative zur Verfügung stand. Diese ist aber in diesem Fall gegeben – mit Lucentis. Es handelt sich also offenbar um Bewilligung von neuen Anwendungen eines Medikaments ausschliesslich aus ökonomischen, so die Interpretation der Pharmaindusrie.
Und dieses neue Prinzip gefährde das bewährte europäische Medikamenten-Einführungsverfahren, so die drei Verbände in einer gemeinsamen Mitteilung: Der sich dabei abzeichnende Trend «beschädigt den Qualitäts-, Sicherheits- und Effizienzstandard und könnte die Gesundheit der Patienten bedrohen.»
Die Pharmabranche pocht dabei auch auf einen Entscheid des europäischen Gerichtshofs, wonach eine Off-Label-Verwendung nicht einfach aus Kostengründen bewilligt werden dürfe.

«Thema der öffentlichen Gesundheit»

«Die pharmazeutische Industrie ruft die EU-Kommission gemeinsam dazu auf, dieses Thema der öffentlichen Gesundheit rasch anzugehen und die Sicherungen zu bewahren, die man installiert hat», sagte Richard Bergström, der Direktor des Verbandes EFPIA, in einer Stellungnahme.
Medizinische Qualität gegen ökonomische Optimierung: Dies die Differenz, um die es in der Darstellung der klagenden Verbände geht. Im Titel ihrer Mitteilung wenden sie sich auch, so die Formulierung, gegen Off-Label-Verwendungen «ohne Einbezug oder Zustimmung von Patienten und deren Ärzten».
Tatächlich erhielt Roche Unterstützung durch die Association DMLA – eine Vereinigung, die in Frankreich rund 1'500 AMD-Patienten und 110 Augenärzte umfasst. Sie wählte ganz ähnliche Worte: «Unter keinen Umständen», so die Betroffenenorganisation in einem Communiqué, «kann die systematische Verwendung von Avastin aus rein ökonomischen Motiven akzeptiert werden.» Die wissenschaftlichen Daten genügten nicht, um eine mögliche Häufung von Nebenwirkungen auszuschliessen.
Allerdings, auch das wäre zu sagen, nannte die Association DMLA schon bei fast allen jährlichen Veranstaltungen seit ihrer Gründung 2003 einen wichtigen Unterstützer und Sponsor (etwa hierhierhier, hier und hier): Es war Lucentis-Vermarkter Novartis. 

Kaum mehr Augenentzündungen beim Einsatz von Avastin

Ist der Einsatz von Avastin riskanter? Zum Beispiel, weil es für den AMD-Einsatz umgefüllt werden muss? Das Thema griff soeben auch die «Sonntagszeitung» auf – mit Verweis auf eine Studie in «Jama Ophthalmology»: 
In den dort erfassten Daten kam es bei 296'565 Avastin-Injektionen in 49 Fällen zu Augenentzündungen (also 0,165 Promille). Bei 87'245 Lucentis-Spritzen gab es 22 Entzündungsfälle (0,252 Promille). Die Gefährdung von Avastin scheint also nicht höher. Die Studie basierte auf den Krankenkassenrechnungen von 59'000 Patienten in den USA.
Mehr:
«European pharma lobby says 'non' to French funding for off-label Avastin», in: «Fierce Pharma»«Pharma takes major offense to French law promoting off-label Avastin use», in: «BioPharma Dive»
Hintergrund s.a.:
«Der Lucentis-Avastin-Fall als gordischer Knoten: Basler Pharma im Clinch mit Europa», in: «Neue Zürcher Zeitung»
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