«Trotz Nullrunde bei den Prämien sind die Probleme überhaupt nicht gelöst»

Er frage sich, ob das Gesundheitssystem überhaupt reformierbar ist, sagt Heinz Locher im Interview mit «Medinside». Und skizziert dann Wege, wie die notwendige Reform doch noch gelingen kann.

, 27. September 2019 um 09:31
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Heinz Locher, vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass es bei den Krankenkassenprämien eine Nullrunde gibt. Ist die Umsetzung des KVG doch auf gutem Weg?
Nein! Es ist nun eine Verschnaufpause. Denn die grundsätzlichen Probleme sind in keiner Weise gelöst. Und diese sind schwerwiegend. Die Umsetzung des KVG ist grandios gescheitert.
Was lässt Sie zu diesem Urteil kommen?
Die Krise im Gesundheitswesen hat eine neue Qualität bekommen. Dies aufgrund der schwarzen Listen der Krankenkassen. Immer mehr Menschen können deshalb nicht mehr zum Arzt gehen. Ihr gesetzlich garantierter Gesundheitsschutz ist faktisch aufgehoben. Das Obligatorium ist so ausser Kraft gesetzt. Das geht so nicht.
Wie konnte es so weit kommen?
Ich sehe das Hauptproblem im Festhalten an der Illusion, die Leistungsfinanzierung könne in erster Linie über Prämien erfolgen.
Was schlagen Sie stattdessen vor?
Heute straft man jene, die sich nicht wehren können: die Prämienzahler. Das muss sich ändern: Kanton und Bund müssen mehr zahlen. Ich las diese Woche einen Kommentar im «Tages-Anzeiger». Dort stand, dass eine Erhöhung der Prämenienverbilligung, wie es eine Initiative der SP will, eine Scheinlösung sei. Das stimmt nicht. Ich finde die SP-Initiative gut. Die Belastung der Versicherten muss gedeckelt werden. Gleichzeitig sollen Bund und Kantone mehr an die Prämien zahlen.
Wie könnte das in der Praxis aussehen?
Heute zahlt der Bund fix 7,5 Prozent an die Kantone, die sie für die Prämienverbilligungen ihrer Bewohner verwenden können. Viele Kantone haben im Gegenzug aber leider einfach ihren eigenen Anteil an die Prämienverbilligung gesenkt. So geht das nicht. Mein Vorschlag: Der Bund zahlt 15 Prozent unter der Bedingung, dass der Kanton auch 15 Prozent zahlt. Gleichzeitig muss – wie eben erwähnt – die Belastung für die Prämienzahler fix begrenzt werden.
Was sind Ihre Argumente dafür?
Zum einen wird die für viele Personen zu grosse Prämienlast endlich verringert. Wenn ein grösserer Teil von Bund und Kantonen – also mit Steuergeldern – bezahlt wird, ist das sozial verträglicher als die Kopfprämien. Entscheidend ist aber auch ein zweiter Punkt: Wenn es zu Kostensteigerungen kommt, gehen diese im neuen System zulasten von Bund und Kantonen. Diese haben es dann in der Hand, regulativ einzugreifen. Tun sie es nicht, werden sie selbst dafür bestraft. Das wirkt regulierend und kostendämpfend.
Die Kantone machen die Versorgungsplanung. Weshalb wollen Sie auch den Bund in die Verantwortung ziehen?
Der Bund nimmt heute seine Kompetenzen nicht wahr.
Können Sie Beispiele geben?
Die Kantone unterlaufen die freien Spitalwahl – der Bund stoppt sie nicht. Er verhinderte auch nicht, dass alle bisher abgeschlossenen Tarifverträge über keine gesetzeskonformen Qualitätsklauseln verfügen und somit gesetzeswidrig sind. Auch die Kantone schritten hier übrigens nicht ein, auch das stört mich. Auch nahm der Bund seinen Evaluationsauftrag lange Zeit ungenügend wahr - beispielsweise im Bereich der Versorgungsforschung.
Wieso nimmt der Bund seine Kompetenzen aus Ihrer Sicht nicht wahr?
Wahrscheinlich weil er den Konflikt mit den Gesundheitsdirektoren scheut.
Müsste denn der Bund grundsätzlich mehr Kompetenzen bekommen?
Ja, man sollte sich überlegen, ob es nicht besser wäre, die Kompetenzen beim Bund zu bündeln. In anderen Bereichen, bei denen man merkte, dass der Föderalismus versagt, hat man die Kompetenzen dem Bund gegeben (Beispiele: Franken, Armee, SBB). Weshalb macht man das im Gesundheitswesen nicht, obschon man sieht, dass die Kantone hier versagen? Man könnte aber noch weiter gehen.
Wie denn das?
Man könnte den Betrieb Techgiganten wie Google oder Amazon überlassen.
Im Ernst – das würde doch ganz neue Probleme schaffen!
Ich provoziere bewusst etwas. Aber Fakt ist: Das aktuelle System ist ein Murks – auch viele Neurungen. Das gilt auch für das neue Patientendossier. Unter dem Vorwand des Datenschutzes wollen die Akteure eine Vergleichbarkeit der Leistungserbringer verhindern. So werden Qualitätssteigerungen verhindert. Ich frage mich manchmal, ob das System überhaupt noch reformierbar ist.
Woran machen Sie das fest?
Die keineswegs revolutionären, sondern sich einzig an den geltende Regelungen und dem Gesamtwohl orientierenden Vorschläge der Expertenkommission werden verwässert, gebremst, verteufelt. Und das mit Erfolg. So kommen keine der dringend benötigten Innovationen zustande.
Was für Innovationen schlagen Sie vor?
Innovationen entstehen nicht, wenn Experten Vorschläge machen. Innovationen müssen in der Praxis entstehen. Das ist ein Merkmal von Innovationen. Wichtig ist, dass die Innovationen auch auf Sekundärwerte wie Transparenzförderung zielen. Es braucht einfache aber gute Lösungen. Solche bringen das System weiter. Wenn man hier ansetzt, sehe ich doch Chancen, dass das scheinbar unreformierbare System doch noch reformiert werden kann. Als Sofortmassnahme würde es aber auch schon genügen, wenn alle die geltenden Regulierungen beachteten und Verstösse gegen diese endlich sanktioniert würden.
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