Es war als Paukenschlag gedacht, und offenbar hat es funktioniert. Letzte Woche veröffentlichte eine Gruppe von britischen Infektiologen, Mikrobiologen und Präventionsmedizinern im «British Medical Journal» einen Aufruf: Er richtete sich gegen die alte Regel, dass die Antibiotika-Packung jeweils aufgebraucht werden soll. Das Team unter Leitung von Martin J. Llewelyn, Professor for infectious diseases an der Brighton and Sussex Medical School, stellte sich auf die Position, dass hier von den Ärzten lediglich eine alte Volksweisheit repetiert werde.
Es gebe keine wissenschaftliche Basis dafür, mehr noch: Im Zeitalter der zunehmend bedrohlichen Antibiotika-Resistenz sei die «Aufbrauch-Regel» schlechterdings fatal
(mehr dazu).Da kommt neuer Erklärungsbedarf auf die Branche zu; in England berichten bereits die ersten Hausärzte von einschlägigen Patienten-Anfragen. Interessant wird also, wie die BMJ-Empfehlung sonst von Experten und Medizinern eingeschätzt wird – welche Meinungen sich also wo durchsetzen.
Erste Reaktionen zeigen, dass die Stossrichtung des Thesenaufsatzes ernsthafte Anhänger hat. Andererseits wird regelmässig kritisiert, dass es noch der Abklärung bedarf; und einig sind sich Befürworter wie Gegner der Abbruch-These, dass nun die Gefahr der Konfusion besteht.
«Wir können keinen Verhaltens-Wandel befürworten»
In England betonte das Royal College of General Practitioners – die Organisation der Hausärzte –, dass man entschlossen bei der traditionellen Regel bleibt. Das heisst: Die Hausärzte auf der Insel raten ihren Patienten weiterhin, eine begonnene Antibiotika-Kur zu beenden, auch wenn sie sich vorher wieder gut fühlen.
Und weiter: «Die empfohlenen Abläufe der Antibiotika-Verschreibung sind nicht zufällig. Sie sind bereits individuellen Bedingungen angepasst. Das Mantra, dass man jeweils die ganze Kur beendet, ist weitherum bekannt. Es würde die Menschen schlicht verwirren, das jetzt einfach zu ändern.»
«Wir brauchen tatsächlich bessere Evidenz»
In den USA nahm
Lilian Abbo, Infektiologin der University of Miami, gegenüber dem
Wirtschafts-Magazin «Forbes» Stellung. Tatsächlich hätten sich die Ärzte über die Jahre angewöhnt, eher längere Antibiotika-Kuren zu verschreiben, gestand Abbo den britischen Forschern zu. Und tatsächlich seien die Zahlen hier ziemlich zufällig.
Ein Grund, weshalb Ärzte längere Antibiotika-Behandlungen von 10 oder gar 14 Tagen verschreiben, liege zum Beispiel darin, dass die zugrundeliegenden klinischen Versuche einfach auch so lange gedauert hatten.
Eine Rolle spiele auch der Anreiz, mehr Medikamente zu verkaufen. «Wir brauchen bessere Studien und werden den Patienten eine bessere Evidenz vorlegen müssen», so Abbo, die auch das Antibiotika-Resistenzprogramm des Jackson Memorial Hospital in Miami leitet.
«Es gibt immer noch zuwenig Grundlagen»
Ebenfalls Stellung bezog die amerikanische Präventionsbehörde
Centers of Disease Control. Die für Antibiotika-Fragen zuständige
Direktorin Lauri Hicks gestand ein, dass die Lage eher unklar ist. «Es gibt eine Anzahl von Infektionen, bei denen es nicht genügend Grundlagen gibt, um eine ideale Dauer der Therapie festzulegen», sagte
Hicks gegenüber «USA Today». «Ein weiterer Aspekt liegt darin, dass jedes Individuum anders ist.»
Es sei also schwierig, gute alternative Regeln aufzustellen. Bei einem Spitalpatienten liessen sich die Fortschritte stetig beobachten. Wenn ein Patient aber am Ende wieder zur Praxis herausläuft, sei die Sache unklarer. Es sei möglich, dass er sich trotz einer 10-Tages-Ration schon bald gesund fühle – nur sei auch dann zu empfehlen, erst den Arzt aufzusuchen, bevor man das Antibiotikum wieder absetzt.
«Sie gingen zu weit»
«Mein Eindruck ist, dass dies ein radikaler Ansatz ist – aber auch auf gewisse Weise korrekt»: So reagierte der Mikrobiologe
Lance Price auf den BMJ-Text; Lance Price leitet das
Antibiotic Resistance Action Center der
George Washington University. Gegenüber dem
«Scientific American» führte Price weiter aus: «Der Kommentar ist ein wirklich gutes Denkstück, aber ich glaube, sie gingen zu weit, als sie sagten, wir sollten eine neue Botschaft verkünden. Wir wissen, dass Antibiotika keine intelligenten Bomben oder Scharfschützen sind – sie zielen nicht bloss auf eine bestimmte, angepeilte Körpergegend, auch wenn wir das gern hätten.»
Aber, so Price weiter: «Wenn man sagt: „Lasst uns die alte Lehre versenken“, ohne eine vernünftige, handhabbare neue Botschaft zu bieten, dann ist dies total verantwortungslos.»
«Willkommene Öffnung»
Als «willkommene Öffnung der Debatte» empfindet Kieran Hand von der
Royal Pharmaceutical Society in England den BMJ-Beitrag. Gegenüber
«Sky News» erinnerte der Pharmakologe daran, dass das Team um Martin Llewelyn selber betont hatte, dass es noch zu früh sei, um guten Gewissens die alte Durchzieh-Regel einfach durch ein «Hör auf, wenn Du Dich besser fühlst»-Mantra zu ersetzen.
Das ideale Zukunftsszenario sähe wohl so aus, so Hand, dass es für jede spezifische Infektion eine klinisch getesteste Ideal-Dauer der Antibiotika-Kur gibt.
«Jeder ist daran interessiert, dass wir weniger Antibiotika verwenden»
Recht positiv reagierte Helen Boucher, Leiterin des
Infectious Diseases Fellowship Program am Tufts Medical Center in Boston: «Das ist ein heisses Thema; jeder ist daran interessiert, dass wir weniger (Antibiotika) verwenden», sagte Boucher gegenüber
«Live Science».
Die «Completing the course»-Regel durchziehen, weil man damit das Risiko von Resistenzen schmälert – diese Haltung habe tatsächlich keine solide wissenschaftliche Beweislage. Aber den Ärzten fehle halt oft das Wissen, wann eine kürzere Behandlung effizient genug ist.
Man mache es sich zu einfach mit der Behauptung, dass die etablierten Antibiotika-Regimes einfach zufällig entstanden seien, so Boucher weiter; sondern diese bauten doch auf klinischen Studien. Allerdings sei es vielfach an der Zeit, dass neuere, verfeinerte trials uns zu effektiveren Behandlungdauern verhelfen.