Der neue Antibiotika-Streit: Was kommt da auf die Gesundheitsversorger zu?

Im BMJ attackiert eine Forschergruppe eine eiserne Regel der Medizin – dass Antibiotika-Packungen vollends aufgebraucht werden sollen. Dies fördere sogar Resistenzen.

, 28. Juli 2017 um 12:27
image
  • forschung
  • medikamente
  • antibiotika
Wer Antibiotika verschrieben bekommt, bekommt sie stets mit einem Zusatz des Arztes: Brauchen Sie die ganze Packung auf! Auch wenn Sie sich zuvor schon gesund fühlen…
Im «British Medical Journal» wenden sich nun mehrere Infektiologen, Mikrobiologen und Präventionsmediziner gegen diese alte Regel. Die Forderung sei nutzlos, mehr noch: Es gebe Hinweise, dass sie die Bildung von Antibiotikaresistenzen erhöht.
Dabei wählt das Team unter der Leitung von Martin J. Llewelyn, Professor for infectious diseases an der Brighton and Sussex Medical School, einen sehr entschiedenen Ton: «Wir fordern Entscheidungsträger, Erzieher und Ärzte auf, die Aufbrauch-Regel in der Öffentlichkeit nicht länger zu verbreiten». Vielmehr sollen die genannten Gesundheitsprofis verkünden, dass die Regel «nicht evidenzbasiert und inkorrekt» sei («…we encourage policy makers, educators, and doctors to stop advocating “complete the course” when communicating with the public. Further, they should publicly and actively state that this was not evidence-based and is incorrect.»).


Freilich: Die Autoren bieten dazu keine neue klinische Studie. Sie publizierten vielmehr eine argumentative, analytische Arbeit, welche den bestehenden Forschungsstand aufbereitet. Dabei fanden Martin J. Llewelyn, Jennifer M. Fitzpatrick et al. insbesondere heraus, dass die traditionelle Regel kaum untermauert ist. In den allermeisten Krankheitsfällen fehlten solide Studien, welche die effiziente Behandlungsdauer festlegen.
Und insgesamt gebe es keine Evidenz, wonach ein früherer Abbruch das Risiko des Patienten erhöht, dass er durch eine resistentere Neuattacke geschädigt wird.

Risiko der Nebenwirkung

Die Idee hinter der alten Durchzieh-Regel ist bekannt: Wenn man das Antibiotikum zu früh absetzt, können einige überlebende Restpopulationen die Basis bilden für einen neuen Angriff – dann aber besser gewappnet, weil resistent.
Eine Durchsicht der Forschungslage deute aber das Gegenteil an, so der neue Aufsatz: Dass der Patient die Tabletten nach der Gesundung weiter nimmt, zerstört zwar tatsächlich die angepeilten Bakterien – aber es gibt auch allerlei anderen Bakterien eine bessere Chance, ihrerseits Resistenzen zu entwickeln.
Es könnte also schlauer sein, wenn der Körper ab einem bestimmten Punkt die Restpopulation des ursprünglichen Krankheitserregers selber bekämpft.
Wann aber ist dieser Punkt erreicht? Antwort: Vielleicht sollte man sich an die Faustregel halten, die Antibiotika abzusetzen, wenn man sich wieder voll gesund fühlt.

Undertreatment versus Overtreatment

«The fear of undertreatment has led to a damaging amount of overtreatment»: So fasste der «Guardian» die neue Sichtweise zusammen. Das klingt zuerst einmal betörend einleuchtend – und wirkt als Gedanke durchaus interessant. Aber das Problem ist klar: Die neuen Aussagen schaffen Konfusion – zumal sie rasch von den Massenmedien aufgenommen wurden, betitelt mit klaren Schlagzeilen im Stile von: «The Myth of Antibiotics», «Taking Antibiotics For Full Can Actually Harm You», oder auf Deutsch: «Das Wichtigste, was man euch über Antibiotika erzählt hat, ist höchstwahrscheinlich falsch»


Haben also die Ärzte seit sieben Jahrzehnten das Falsche gelehrt? Und was wird mit der gültigen WHO-Regel?
Gemach. Widerspruch gegen den BMJ-Aufsatz kam auch prompt auf. Ein Mikrobiologe der Aston University in Birmingham, Jonathan Cox, hielt etwa dagegen mit dem Argument, dass die erwähnten Forscher ebenfalls auf einem sehr begrenzten Datenset argumentieren. Und dass sich die Studien, die Zweifel wecken könnten, nur auf wenige, spezifische Infektionen beziehen.

Persistenz versus Resistenz

Aus mikrobiologischer Sicht sei die Argumentation der Kollegen aus Brighton jedenfalls kaum schlüssig. Sie übersehe den Aspekt der Persistenz – zu unterscheiden von der Resistenz. Gemeint sind damit jene Bakterien, die keine Resistenz entwickelt haben, aber denen es doch gelungen ist, die Antibiotika-Attacken zu überleben, was aus diversen Gründen geschehen kann. Diese Bakterien bleiben im Körper, wenn man eine zu frühe Absetzung riskiert. Und sie verlangen im schlimmsten Fall, wenn es zu einem Neuausbruch kommt, nach höheren Dosierungen.
Eines sei jedenfalls klar: Es bedürfe noch einiger Studien, um dermassen klare Aussagen gegen das Aufbrauchen der Antibiotika zu wagen. In diesem Punkt sind sich die neuen Antibiotika-Fraktionen einig. Denn auch die Forscher um Martin J. Llewelyn kamen zum Schluss, dass ihre These noch nach weiteren Forschungen ruft.
Bis dahin werden die Ärzte wohl zunehmend mit kritischen Fragen konfrontiert, wenn sie zum Aufbrauchen der Packung auffordern. Ihnen bleibt wohl, Unterschiede zwischen Persistenz und Resistenz zu erklären. Und darauf, dass die Medizin nach dem Trial-and-error-Verfahren immer der idealen Lösung annähern muss.  
Tweets zum Thema:
Artikel teilen

Loading

Comment

2 x pro Woche
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

oder

Mehr zum Thema

image

Krebsliga will keine Geheimpreise mehr bei Medikamenten

Ausgerechnet die Krebsliga ist dagegen: Der Bundesrat soll künftig keine vertraulichen Rabatte mehr mit der Pharmaindustrie vereinbaren.

image

Insel-Chirurg mit dem Håkan Ahlman Award ausgezeichnet

Cédric Nesti wurde von der Europäischen Gesellschaft für Neuroendokrine Tumoren für eine Publikation über die Gefährlichkeit von Lymphknotenmetastasen.

image

Fencheltee im Visier von Swissmedic

Das Heilmittelinstitut rät Schwangeren, Säuglingen und Kindern unter 4 Jahren von einer Einnahme ab. Das in Fencheltee enthaltene Estragol könnte die Gesundheit schädigen.

image

Viele neue Krebs-Medikamente haben wenig Nutzen

Besonders enttäuschend erscheinen dabei die Wirkstoffe, die in Europa nach einem beschleunigten Verfahren zugelassen wurden.

image

Der Preisüberwacher fordert tiefere Spitaltarife und offenere Grenzen

Stefan Meierhans präsentiert acht Vorschläge für ein günstigeres Gesundheitswesen.

image

Viktor 2023: «Nur gemeinsam lassen sich Visionen und Lösungen schaffen»

Die Post entwickelt sich zu einem starken Player in der Gesundheitsbranche. Weshalb ihr Engagement für den Viktor bestens dazu passt, erläutert Leiter Branchenlösungen Daniel Vögeli im Interview.

Vom gleichen Autor

image

Überarztung: Wer rückfordern will, braucht Beweise

Das Bundesgericht greift in die WZW-Ermittlungsverfahren ein: Ein Grundsatzurteil dürfte die gängigen Prozesse umkrempeln.

image

Kantone haben die Hausaufgaben gemacht - aber es fehlt an der Finanzierung

Palliative Care löst nicht alle Probleme im Gesundheitswesen: … Palliative Care kann jedoch ein Hebel sein.

image

Brust-Zentrum Zürich geht an belgische Investment-Holding

Kennen Sie Affidea? Der Healthcare-Konzern expandiert rasant. Jetzt auch in der Deutschschweiz. Mit 320 Zentren in 15 Ländern beschäftigt er über 7000 Ärzte.