Frankreichs Hausärzte gehen auf die Strasse

Statt 25 Euro pro Konsultation wollen französische Hausärzte künftig das Doppelte. Sind sie geldgierig oder arbeiten sie zu einem Hungerlohn?

, 11. Januar 2023 um 07:44
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Hausärzte und -ärztinnen besammeln sich auf der Place du Panthéon in Paris. | Screenshot France 3
Dass Frankreichs Ärzte ausgerechnet jetzt streiken, stösst nicht überall in der Bevölkerung auf Verständnis. Bereits seit den Festtagen haben mehrere tausend Praxisärzte gestreikt und keine Patienten mehr empfangen. Mit der Aktion «geschlossene Praxen» wollten sie gegen ihre Honorare protestieren. Das Kollektiv «Ärzte für morgen» prangert an, dass die Löhne im Verhältnis zu ihren Studienjahren zu niedrig seien. Französische Ärzte dürfen pro Konsultation 25 Euro verrechnen.

«30 Konsultationen sind zu zu viel»

«Vor 25 Jahren konnte ein Arzt mit 15 oder 20 Konsultationen pro Tag sehr gut verdienen. Heute braucht er mindestens 30 Konsultationen pro Tag, um das gleiche Einkommen zu erzielen. Das ist zu viel», beklagte sich ein Hausarzt gegenüber dem französischen Fernsehsender TF1. Er und viele seiner Kollegen fordern daher eine Verdoppelung des Tarifs auf 50 Euro.

Haarschnitt teurer als Arztbesuch

Die Forderungen der Ärzte dürften nicht unberechtigt sein. In Frankreich ist ein Haarschnitt teurer als ein Arztbesuch. Zum Vergleich: In Europa liegt der durchschnittliche Preis für einen Besuch beim Allgemeinmediziner bei 45 Euro.

4500 Euro Einnahmen - ohne Praxiskosten

Trotzdem kommen die Streiks für die Patienten überraschend, denn in deren Vorstellung verdienen Ärzte sehr gut. Das stimmt nur bedingt. Zu Beginn seiner Karriere nimmt ein Allgemeinmediziner durchschnittlich 4’500 Euro pro Monat ein – davon muss er aber noch die Praxismiete und Angestellte bezahlen.
Es bleibt ein Lohn, der angesichts der neun Jahre Studium, die Ärzte absolviert haben, sehr niedrig ist. Nach zehn Berufsjahren steigen die Einnahmen auf durchschnittlich 6’500 Euro. Aber auch das ergibt mit allen Auslagen keinen fürstlichen Lohn. Wie in der Schweiz verdienen auch in Frankreich Spezialärzte bedeutend mehr als Hausärzte.

Regierung stellt Gegenforderung

Frankreichs Gesundheitsminister François Braun sagte zu den Streiks. «Ich bin bereit, den Preis für eine Konsultation zu erhöhen, wenn die Versorgung der Franzosen gewährleistet ist.» Das Problem in Frankreich ist, dass viele Menschen gar keinen Zugang zu einem Hausarzt haben.
Braun sagte deshalb: «Ich will, dass die 650’000 Franzosen, die chronisch krank sind und keinen Arzt haben, behandelt werden. Ich will, dass man nachts und am Wochenende einen Arzt aufsuchen kann», forderte der Gesundheitsminister im Fernsehsender France 2.

7 Milliarden Euro Mehrkosten

Für die staatliche Krankenkasse ist eine Erhöhung des Honorars der Hausärzte eine unrealistische Forderung. Es würde sie 7 Milliarden Euro pro Jahr kosten. Derzeit ist die Regierung mit den Ärzten am Verhandeln.
Dass die Ärzte ihr Honorar auf einen Schlag verdoppeln möchten, stösst kaum auf Verständnis. Die Mehreinnahmen würden dem 15-Fachen der Inflationsrate in Frankreich entsprechen.

Gewinnsüchtige Ärzte?

Kritisiert werden die streikenden Ärzte auch deshalb, weil es in Frankreich derzeit sehr viele Patienten mit Covid, Grippe und anderen Atemwegserkrankungen gibt. Die Ärzte würden auf unverschämte Weise den hippokratischen Eid missachten, der besage, dass sie sich nicht von Gewinnsucht beeinflussen lassen dürften.

Eine französische Ärztin am Ende ihrer Kräfte

In der französischen Gratiszeitung «20 Minutes» beschreibt die junge Hausärztin Amélie Ricois, wie sie arbeitet. Ihre Praxis hat sie im Departement Eure-et-Loir im Südwesten von Paris, einem der Departemente, die als «medizinische Wüsten» bezeichnet werden. Sie muss deshalb 1’900 Patienten betreuen – der nationale Durchschnitt liegt bei 800 Patienten.

15 Notfälle eingeplant - 46 Notfälle angerufen

Obwohl sie täglich 15 Zeitfenster für Notfälle reserviert, reiche das nicht aus. Am 12. Dezember gab es 46 Anrufe für die Vereinbarung eines Notfalltermins, schildert sie. «Ich wollte einfach nur den Computer ausschalten und nach Hause gehen, weil ich wusste, dass ich nicht alles bewältigen kann.» In solchen Fällen bete sie nur noch, dass es all denen, die sie nicht gesehen hat, gut gehe.

Sie will nicht die Nächste sein, die aufhört

«Ich bin stolz darauf, Ärztin zu sein. Aber ich weiss nicht, ob man stolz darauf sein sollte, dass man unter diesen Bedingungen arbeiten kann, denn eigentlich akzeptiert man das, was nicht akzeptabel ist», sagt Amélie Ricois. Viele Kollegen könnten nicht mehr durchhalten und liessen sich krankschreiben. Sie wolle nicht die Nächste sein.

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