Ein 43-jähriger gesunder Mann bricht sich beim Velofahren das Handgelenk, muss operiert werden und kann die rechte Hand ein paar Wochen nicht brauchen. Seine Frau lässt sich von einer Spitex-Firma als pflegende Angehörige anstellen und kassiert 40 Franken pro Stunde für ihre Pflege. Die Firma, welche sie angestellt hat, profitiert ebenfalls, weil sie für die Pflege 90 Franken pro Stunde in Rechnung stellen kann und somit 50 Franken pro Stunde verdient – dies alles zulasten der Krankenkassen und der öffentlichen Hand.
«Firma nicht schnell mit dem Laptop gegründet»
Solche Vorstellungen über neu gegründete Privat-Spitex-Firmen kursieren in der Branche. Aber sie sind meistens falsch.
Azra Karabegovic, die Co-Geschäftsführerin der Privat-Spitex Carela sagt: «Eine solche Firma lässt sich nicht schnell mit einem Laptop gründen – und schon gar nicht kann die Firma locker viel Geld verdienen, indem sie einfach Angehörige anstellt und für sich arbeiten lässt.»
Kein Lohn von Carela
Der Fall des 43-Jährigen mit der gebrochenen Hand wäre zum Beispiel gar kein Fall, den Carela übernehmen würde: «Klar ist es nach einem solchen Unfall umständlicher, sich zu waschen und anzuziehen. Aber mit einem Plastiksack über der Hand kann der Mann problemlos selber unter die Dusche», erklärt die Pflegeexpertin APN Azra Karabegovic.
Azra Karabegovic, die Co-Geschäftsführerin der Privat-Spitex Carela. | zvg
Trotzdem: Firmen wie Carela werden
misstrauisch beäugt. Innert kurzer Zeit seien rund 30 neue Firmen entstanden, die sich auf dieses angeblich ertragreiche Geschäft spezialisiert haben und pflegende Angehörige anstellen, kritisierte kürzlich der Krankenkassenverband Santésuisse.
«Auf ertragreiches Geschäft spezialisiert»
Azra Karabegovic stellt klar: «Ja, wir haben uns auf die Anstellung von pflegenden Angehörigen spezialisiert. Aber nicht deshalb, weil es ein einträgliches Geschäftsmodell wäre, sondern weil es dafür spezielle Voraussetzungen braucht.» Zum Beispiel braucht es erfahrene Spitex-Pflegefachpesonen, welche die pflegenden Angehörigen nicht nur fachlich, sondern auch emotional unterstützen können. Und die Fallführung ist komplizierter. «Denn wir betreuen jeweils zwei Personen: die Klienten und die Angehörigen, die sie pflegen.»
Pflegende Angehörige bräuchten fachliche, finanzielle und emotionale Unterstützung, damit sie ihre Arbeit langfristig machen können, ist Karabegovic überzeugt. «Ohne diese Hilfe laufen sie Gefahr, auszubrennen, was nicht nur ihre eigene Gesundheit gefährdet, sondern auch die Qualität der Pflege beeinträchtigt.»
«Ich bin Ljiljana und 55 Jahre alt. Ich pflege meinen 65 Jahre alten Ehemann. Er leidet seit etwa sechs Jahren an Demenz.» Eine pflegende Angehörige
Krankenkasse sehen es anders
Sie betont: «Unsere Hilfestellung stabilisiert die Situation zu Hause, reduziert Überlastung und entlastet so das Gesundheitssystem.» Das sehen aber Krankenkassen und Kantone nicht so: Firmen wie Carela würden Arbeit verrechnen, die bisher gratis gewesen sei, beklagen einige von ihnen. Diesen Vorwurf findet Karabegovic anmassend.
«Sollen pflegende Angehörige unbegleitet bis zur Überlastung oder Erschöpfung weiter arbeiten, damit im Gesundheitswesen minim Geld gespart werden kann?», fragt sie.
Das passiert mit dem «Gewinn»
Pflegende Angehörige erhalten bei Carela 34.30 Franken pro Stunde. Das entspreche dem Assistenzbeitrag für IV-Bezüger. «Wir wollen die Angehörigen fair entlöhnen, aber nicht dazu verlocken, dass sie eine andere Arbeit aufgeben», begründet Karabegovic diesen Betrag.
Mit den Einnahmen würden etwa 40 bis 50 Franken pro Stunde für die Firma übrigbleiben, räumt die Carela-Chefin in. «Theoretisch», fügt sie hinzu. Denn mit diesem Betrag müsse unter anderem die individuelle und umfassende Unterstützung der Angehörigen bezahlt werden. «Dazu kommen wie in jeder anderen Firma Lohn- und Infrastruktur-Kosten, sowie Kosten für die Qualitätssicherheit.»
Kein Geld für den Ehemann, der putzen muss
Um als pflegende Angehörigen entlöhnt zu werden, gebe es klare Kriterien, betont sie. Der Ehemann, der kochen, das Haus putzen und einkaufen muss, weil seine Frau krank ist, erhält keine Anstellung.
Einen Lohn erhalt jedoch die Mutter, die seit Jahren ihre mittlerweile 17-jährige Tochter mit Trisomie 21 pflegt. Oder der Mann, der seiner Frau mit fortschreitender Multipler Sklerose ermöglicht, noch möglichst lange zuhause zu bleiben.
Doch auch in diesen Fällen gibt es kein Geld fürs Käfele oder Jassen – sondern nur für Pflege: fürs Waschen und Anziehen, für die Begleitung zur Toilette und oder das Essen Eingeben. Abgerechnet wird nach Minuten, die im Voraus nach klaren Kriterien festgelegt werden. Und diese Kriterien sind hart. Nicht selten muss Azra Karabegovic lang mit den Krankenkassen verhandeln.
«Fünfmal aufs WC ist zuviel»
Einmal zum Beispiel, weil sie fünf begleitete WC-Gänge pro Tag zu sieben Minuten in Rechnung stellte. Die Krankenkasse wollte nicht zahlen, weil eine normale Spitex dies auch nicht leisten könnte und empfahl stattdessen Inkontinenzmaterial.
Karabegovic argumentierte, dass Patienten viel länger kontinent und damit selbstbestimmt blieben, wenn sie aufs WC gehen. Ausserdem würden die Kosten für Spätfolgen der Inkontinenz und das Material gespart.
«Schuld an Prämienanstieg»
Die Spitex-Kosten für pflegende Angehörige haben sich im ersten Halbjahr 2024 von 30 auf 50 Millionen Franken erhöht. Azra Karabegovic stellt diese Zahl in einen Rahmen: «Das Schweizer Gesundheitswesen kostet über 90 Milliarden Franken im Jahr.
Zwei Milliarden davon werden für die ambulante Pflege ausgegeben. Wenn nun die Entlöhnung pflegender Angehöriger 40 Millionen Franken mehr kostet, sind das rund 0,1 Prozent der der gesamten Gesundheitskosten. Das ist ein so kleiner Bruchteil, dass die Krankenkassenprämien deswegen nicht steigen.»
«Professionell begleitet»
Es brauche ein Umdenken, findet Karabegovic. Man müsse auch die Folgen einbeziehen, die es habe, wenn Menschen im Erwerbsalter unbezahlte Pflegearbeit leisten. «Dann haben sie im Alter oft zu wenig Geld und müssen mit Ergänzungsleistungen unterstützt werden.»
Pflegende Angehörige, die entlöhnt werden, hätten zudem eine Tagesstruktur mit sinnvoller Tätigkeit, seien zufriedener und würden vor allem professionell begleitet bei ihrer Aufgabe, führt sie ins Feld.
Quereinstieg in die Pflege
Und nicht zuletzt wirke die Entlöhnung der Personalnot in der Pflege entgegen. Pflegende Angehörige würden nicht nur Arbeit, die sie sonst gratis gemacht hätten, sondern auch solche, die sonst die klassische Spitex oder ein Pflegeheim hätte übernehmen müssen, sagt Karabegovic.
In einigen Fällen sorge die Entlöhnung sogar für neuen Nachwuchs in der Pflege. «Es kam schon vor, dass Angehörige in einem Pflegeheim als Pflegehilfe weiterarbeiten wollten.»
Zwei pflegende Angehörige erzählen
«Ich bin Lepica, 63 Jahre alt. Ich pflege seit etwa fünf Jahren meinen 72-jährigen Mann, welcher mehrere chronische Erkrankungen hat. Er braucht täglich Hilfe. Ich motiviere ihn zum Aufstehen und Essen. Ich dusche ihn und kreme ihn ein, massiere seine schweren Beine und Füsse, damit er besser beweglich ist und ich schneide seine Finger- und Zehennägel. Ich mache das Frühstück, das Mittagessen und das Abendessen und gebe ihm seine Medikamente.
Ich verdiene rund 1200 Franken brutto, je nach Pflegeaufwand. Bezahlt wird nur der Aufwand für die Pflege. Schade ist, dass der Verbandswechsel nicht bezahlt wird und das Richten der Medikamente, obwohl ich das auch mache. Wir möchten aber nicht eine andere Spitex für diese Pflegeleistungen im Einsatz haben. Ich mache das bei meinem Mann gerne selber.
Ich bin froh, dass meine Pflege endlich anerkannt wird. Fachlich werde ich sehr gut von Carela unterstützt. Und ich bin auch mit der Entlöhnung zufrieden.»
«Ich bin Ljiljana und 55 Jahre alt. Ich pflege meinen 65 Jahre alten Ehemann. Er leidet seit etwa sechs Jahren an Demenz. Zuerst war ich bei einer anderen Spitex-Organisation angestellt und bin dann zu Carela gekommen. Mein Mann braucht am Morgen Hilfe beim Aufstehen und beim Zähneputzen. Ich richte auch seine Medikamente. Am Abend helfe ich beim Duschen, Eincremen, auch mal beim Rasieren, Fingernägel Schneiden – je nach dem, was gerade ansteht und wie es ihm geht. Tagsüber bereite ich das Essen vor und erinnere ihn daran, genug zu essen und zu trinken, gehe mit ihm hinaus, damit er in Bewegung bleibt und unterstütze ihn, wenn er verwirrt ist.
Ich verdiene etwa 1100 Franken pro Monat und bin sehr glücklich darüber, dass meine Arbeit wertgeschätzt wird und ich so Zeit mit meinem Mann verbringen kann. Ich hoffe, dass es nicht schlimmer wird.
Bezahlt wird nur meine Arbeit für die Grundpflege, also Duschen, Rasieren und allgemeine Hygiene. Die übrige Betreuung, also das Spazieren oder das Kochen nicht.
Ich bin froh, dass mich Stephanie, meine zuständige Pflegefachperson unterstützt. Wir sind regelmässig in Kontakt, und sie schreibt alles Wichtige auf.»