«Das System selbst verletzt die Pflegenden»

Pierre-André Wagner ist Pflegefachmann, Rechtsanwalt und Leiter Rechtsdienst beim SBK. Ein Gespräch über strukturelle Gewalt, politischen Stillstand und eine Pflege am Limit.

, 21. August 2025 um 05:28
letzte Aktualisierung: 30. September 2025 um 07:47
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Herr Wagner, viele Pflegefachpersonen erleben Gewalt durch Patienten als belastenden Teil ihres Spitalalltags. Sie sprechen aber auch von einer anderen, weniger sichtbaren Form von Gewalt – der strukturellen. Was genau verstehen Sie darunter?
Strukturelle Gewalt meint die Belastungen, die durch das System selbst entstehen. Viele Pflegende erleben eine sogenannte moral injury: Sie wollen gute Pflege leisten, haben einen klaren ethischen und fachlichen Auftrag – aber die Bedingungen lassen das kaum mehr zu. Der chronische Personalmangel verhindert, dass man diesem Anspruch gerecht wird. Das ist zermürbend. Viele verlassen den Beruf, weil sie es nicht mehr aushalten. Die fehlende Umsetzung der Pflegeinitiative empfinden viele als Ohrfeige – das System verletzt.
In der öffentlichen Debatte stehen oft Übergriffe durch Patienten im Vordergrund. Sie sagen, das greife zu kurz. Warum?
Natürlich sind solche Vorfälle belastend, aber die tiefere Ohnmacht entsteht durch das, was im System dauerhaft schiefläuft: durch fehlendes Personal, durch auseinanderbrechende Teams, durch Stellen, die nicht mehr besetzt werden. Pflegende fühlen sich im Stich gelassen – von den Institutionen, aber auch von der Politik. Es fehlt an echter Wertschätzung.
Nach der Annahme der Pflegeinitiative waren die Erwartungen gross. Warum ist trotzdem so wenig passiert?
Weil die Politik bei den entscheidenden Punkten nicht liefert. Die Ausbildungsoffensive ist wichtig, aber sie greift zu kurz. Ohne bessere Arbeitsbedingungen steigen die Leute nach wenigen Jahren wieder aus. Es fehlt ein verbindlicher Personalschlüssel, es fehlt die gesicherte Finanzierung. Solange das nicht geregelt ist, sparen die Betriebe weiter beim Personal. Und der Druck wächst. Viele Pflegende halten durch, obwohl sie längst am Limit sind. Politiker sagen: «Was jammert ihr, es geht ja noch.»
Pierre-André Wagner, Rechtsanwalt, LL.M., dipl. Pflegefachmann, Leiter Rechtsdienst des Schweizer Berufsverbandes der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK)
Nach dem Jurastudium in Bern und einer Spezialisierung in feministischer Rechtswissenschaft an der York University in Toronto arbeitete Pierre-André Wagner als Gerichtssekretär am Bundesgericht.
Anschliessend liess er sich zum Pflegefachmann AKP ausbilden und war sechs Jahre in der Pflege tätig. Seit 2001 leitet er den Rechtsdienst des SBK Schweiz, wo er die berufspolitischen und rechtlichen Dossiers des Verbands betreut – unter anderem auch die Pflegeinitiative. Von 2008 bis 2020 war er Mitglied der Eidg. Kommission für Frauenfragen, ab 2012 als Vizepräsident.
Welche Folgen hat dieser Zustand für die Pflegequalität – und letztlich für die Patientensicherheit?
Die Folgen sind gravierend. Wir erhalten regelmässig Rückmeldungen zu schwerwiegenden Fehlern: Chemotherapien, die in zwei statt 24 Stunden verabreicht werden. Medikamentenverwechslungen in Kinderkliniken, wo drei Diplomierte für 16 Kinder zuständig sind. Oder Teams in der Onkologie, die völlig auseinanderbrechen – mit der Folge, dass frisch ausgebildete Pflegefachleute alleine übernehmen müssen. Solche Zustände sind gefährlich. Und sie sind längst Realität.
Trotz aller Probleme: Gibt es noch Hoffnung auf eine Wende?
Die Hoffnung liegt in der Mobilisierung. Auch Streiks sind kein Tabu mehr. Es braucht endlich Sofortmassnahmen. Derzeit wird das System notdürftig am Laufen gehalten mit Temporärkräften und ausländischem Personal. Ohne sie würde vieles zusammenbrechen. Im HUG stammen 80 Prozent der diplomierten Pflegenden aus Frankreich, schweizweit ist es rund ein Drittel. Das ist nicht nachhaltig und es ist nicht fair. Wir brauchen langfristige, tragfähige Lösungen. Keine Notoperationen.

  • Heldin? — «Der Film zeigt ein hilfloses Opfer» Der Spielfilm über eine Pflegefachfrau ist ein Grosserfolg. Doch es gibt auch fachliche Kritik. Zum Beispiel von Teresa Gyuriga Perez, der ersten «Infirmière cantonale» der Schweiz. Das Interview.

SBK ruft zum Streik auf: «Der Applaus genügt nicht mehr»
Am 22. November 2025 ruft der SBK gemeinsam mit weiteren Berufsverbänden und Gewerkschaften des Gesundheitspersonals zu einer nationalen Kundgebung in Bern auf. Unter dem Motto «5 nach 12» fordern die Teilnehmenden bessere Arbeitsbedingungen, eine sichere Gesundheitsversorgung und die konsequente Umsetzung der Pflegeinitiative.
Die Kritik richtet sich gegen den Entwurf des neuen Pflegegesetzes (BGAP): Es fehlen klare Vorgaben zu Personalschlüsseln, eine gesicherte Finanzierung und wirksame Massnahmen gegen den Personalmangel. Der SBK warnt, dass die anhaltende Unterfinanzierung die Versorgungsqualität massiv gefährdet und den Teufelskreis aus Überlastung, Berufsausstiegen und zunehmendem Mangel weiter verschärft.
Autorin: Anna Birkenmeier
  • SBK
  • Gewalt
  • Gesundheitswesen
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