In einem aufwändigen TV-Film thematisierte das Schweizer Fernsehen RTS am Freitag sexuelle Belästigungen, Missbräuche und Erpressungen in Westschweizer Spitälern. Im Zentrum der Vorwürfe: Kollegen, Chirurgen, HR-Abteilungen.
Der 50 Minuten lange
Film zeigte, wie die Opfer in den Spitälern durch einen Parcours von Schweigen, Drohungen, institutioneller Gleichgültigkeit und Einsamkeit mussten. Einige gaben schliesslich ihren Arbeitsstelle auf und brachen die Karriere ab.
«Die in der Sendung gezeigten Fälle sind inakzeptabel und unentschuldbar, dürfen aber nicht zu einer ungerechtfertigten Pauschalisierung führen», schreibt SGC-Präsidentin Rebecca Kraus in einer Stellungnahme: «Wir hoffen und wünschen uns nachdrücklich, dass die in der Sendung geschilderten sexuellen Übergriffe kein weitverbreitetes Phänomen darstellen, denn solches Verhalten widerspricht in jeder Hinsicht den ethischen und moralischen Werten unseres Berufs, die die SGC vertritt und unter ihren Mitgliedern fördert.»
«Die Chirurgie ist besonders anfällig für Abhängigkeitsverhältnisse im Rahmen der Ausbildung.»
Es sei entscheidend, Medizinstudierende frühzeitig für dieses Thema zu sensibilisieren, um das Tabu zu brechen. Ebenso liege es in der Verantwortung der Klinikleitungen, Führungskräfte entsprechend zu schulen und für die Problematik zu sensibilisieren. «Die Chirurgie ist ein faszinierendes und anspruchsvolles Fach, und es wäre zutiefst bedauerlich, wenn unsere jungen Kolleginnen und Kollegen aus Angst vor einem feindlichen Arbeitsklima von dieser Berufung Abstand nähmen», so das Statement der Fachgesellschaft.
Der Verband Women in Surgery will sich für die Schaffung unabhängiger Anlaufstellen und von Sensibilisierungs-Massnahmen einsetzen. «Wir wissen, dass ungleiche Machtverhältnisse das Risiko eines Übergriffs erhöhen, und die Chirurgie ist besonders anfällig für Abhängigkeitsverhältnisse im Rahmen der Ausbildung», heisst es in der Stellungnahme, unterschrieben von Präsidentin Jeannette D. Widmer und Vizepräsidentin Hemma Mayr.
Der Fernsehbeitrag habe niemanden unberührt gelassen: «Einige erkannten ihre eigene Geschichte, andere verspürten Wut darüber, dass so etwas möglich ist.»
«Harcèlement à l'hôpital, silence sous la blouse»: Temps Présent, RTS-Sendung vom 30. Januar 2025. Dauer: 47:30 Minuten.
«Ein Vorgesetzter stellte mir Fragen über die Art der sexuellen Aktivitäten, die ich während des Wochenendes gehabt hatte», berichtet im RTS-Beitrag eine anonymisierte Medizinstudentin: «Und als ich ihm sagte, dass ich nicht antworten wolle, sagte er, ich sei dreist, dass ich ihm nicht antworten wolle, und dass mein Platz in der Chirurgie davon abhänge.»
Unter Verdacht stehen Männer in hohen Positionen in der medizinischen Hierarchie – geschützt durch ihren Status, ihren Ruf, ihre Macht und sogar durch ein Gefühl der Straflosigkeit.
Kultur des Schweigens?
Es sein eine schwierige Entscheidung, einen einflussreichen zu Arzt entlassen, erklärt David Raedler, Fachanwalt für Arbeitsrecht, im RTS-Beitrag: «Es ist klar, dass die Entscheidung, eine Person zu entlassen, die sehr einträglich ist, die Kunden bringen kann, die Know-how bringen kann, die ein Image bringen kann, eine Entscheidung ist, die für ein Spital sehr schwer zu treffen ist.»
Die Institutionen versprechen Präventionsmassnahmen. Doch der Film deutet an, dass eine Kultur des Schweigens in den Spitälern nach wie vor tief verwurzelt ist.
Natürlich schildert der RTS-Beitrag nicht nur ein Problem der Westschweiz. Im Jahr 2022 gaben in einer Umfrage der Universität Zürich 24 Prozent der Medizinstudentinnen an, Opfer von sexueller Belästigung oder Sexismus durch ihre Vorgesetzten (57 Prozent Kaderärzte oder Oberärzte) geworden zu sein. «Die Daten zeigen, dass meist ein hierarchisch höher gestellter Mann eine hierarchisch tiefer gestellte Studentin belästigt»,
hiess es im Bericht.
Women in Surgery zitiert auch eine
Umfrage in der Chirurgie des NHS in Grossbritannien, laut der über 60 Prozent der Chirurginnen in ihrer Ausbildung sexuellen Belästigungen ausgesetzt waren – gegenüber 23 Prozent bei den Chirurgen.