Wir sollten mehr über den Nutzen unseres Gesundheitswesens reden

Nach Corona sollte der Fokus der politischen Reformdiskussion wechseln: Weg vom zunehmend drögen Kostenlamento, hin zu einer Betrachtung, welche den Nutzen nicht einfach ausblendet. Nur ein Wettbewerb um Preise und Qualität wird Ineffizienzen und Fehlanreize beseitigen.

, 1. August 2021 um 06:29
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  • daniel heller
  • politik
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Gesundheitspolitisch stehen nach Corona trotz dem erfolgreich bestandenen Stresstest unserer Gesundheitsversorgung vor allem Kostendämpfungsmassnahmen auf der Agenda. Im Zentrum steht die Einführung von Zielvorgaben – eine verkappte Form von Kostendeckelungen. Die meisten der vom Bundesrat und von einzelnen Parteien gemachten Vorschläge betreiben indes nur Palliative Care und bringen keine echten Verbesserungen. Die Corona-Engpässe sollten uns mittlerweile eigentlich gelehrt haben, dass die rein kostenfixierte Betrachtung verfehlt ist: Die Gesundheitskosten – in den letzten Jahren immer auf einem Podestplatz im Sorgenbarometer der Schweizerinnen und Schweizer – wurden 2020 denn auch prompt durch die Corona-Pandemie als Sorge Nummer eins abgelöst.
Die aktuell von der Politik diskutierten unkoordinierten Einzelmassnahmen werden Tribute von sämtlichen Akteuren im Gesundheitswesen fordern. Es ist derzeit weitgehend offen, welche davon mehrheitsfähig sind und welche nicht. Sicher ist aber, dass die meisten zur Diskussion stehenden Einzelmassnahmen das Gesamtsystem schädigen würden. Fatale Folgen könnten sein:

  • die Spitäler drohen einer neuen Planwirtschaft unterworfen zu werden,
  • die administrierten Preise gerieten unter starken Druck,
  • die Kantone würden in ihrer Position bei Tariffragen gestärkt,
  • die Kostendeckung von Tarifen würde in weite Ferne rücken,
  • die Konsolidierung der Spitallandschaft (Globalbudget, Rationierung) würde akzentuiert,
  • die Löhne für Spezialisten würden gedeckelt oder empfindlich reduziert,
  • die Medikamentenpreise und andere Tarife würden weiter nach unten korrigiert,
  • das wettbewerbliche Kassensystem käme wieder unter Druck (Einheitskassendiskussion)
  • und das Territorialitätsprinzip könnte aufgeweicht werden, mit schädlichen Folgen für die inländische Gesundheitsbranche.

Zusammengefasst sind sämtliche Akteure im Gesundheitswesen unter starkem politischem und öffentlichem Druck und in der öffentlichen Wahrnehmung ist das Schweizer Gesundheitswesen ein Problemfall, den es dringend zu sanieren gilt. Unter den Tisch fällt dabei, was Bevölkerung, Patienten und Prämienzahler als Gegenwert von unserem Gesundheitssystem erhalten. Und weil dieser Nutzen unseres Gesundheitswesens sowohl für das Kollektiv als auch für das Individuum ausgeblendet wird, nimmt die Politik damit eine Schädigung des Gesamtsystems mit Verschlechterungen für den einzelnen Patienten fahrlässig in Kauf.
Eine Versachlichung der Gesundheitspolitik kann am besten auf Basis einer KOSTEN/NUTZEN-Diskussion erreicht werden. Denn in unserer reichen Schweiz verbessern wir ständig Diagnose und Therapie, dadurch leben wir immer länger und länger; wir werden «reparatur- und ersatzteilbedürftig», und so steigen die Gesundheitskosten. Wollen wir das, oder wollen wir es nicht? Natürlich wollen wir es so.
Es gilt zu erarbeiten, welche volkswirtschaftliche Bedeutung und welchen Nutzen des Schweizer Gesundheitswesens auf Stufe Wirtschaft und Gesellschaft, aber auch für den Einzelnen bietet. Heute existiert keine gesamtschweizerische Studie, welche umfassend Aufschluss gibt über den Gesamtnutzen des Gesundheitswesens; dieser fällt dreifach an - volkswirtschaftlich, gesellschaftlich und individuell. Aktuelle Studien zur Thematik messen aber oft nur die volkswirtschaftliche Bedeutung des Gesundheitswesens, sei es in einzelnen Bereichen oder in bestimmten Kantonen. Sie sind insofern unvollständig, als sie sich nur auf den direkten volkswirtschaftlichen Nutzen konzentrieren und dabei den indirekten Nutzen ausblenden. Der indirekte Nutzen ist speziell aufs Individuum bezogen, und umfasst kurz gefasst die Reintegration in den Arbeitsprozess dank neuer Therapien, höhere Lebensqualität sowie längere Lebenserwartung bei markant besserem Gesamtzustand.
Misst sich der direkt generierte volkswirtschaftliche Nutzen bei der Wertschöpfung beispielsweise in qualifizierten Arbeitsplätzen, bei den Steuererträgen, bei den Einkaufsvolumen von Gütern (Medizinaltechnik, Gerätschaften, Medikamente, Verbrauchsmaterial, …) so fallen beim induzierten und indirekten volkswirtschaftlichen Nutzen folgende Aktivposten an: Vorleistungen, welche die Branche aus anderen Sektoren bezieht (u.a. Bau und Infrastruktur), von im Sektor Beschäftigten konsumierte Produkte und Dienstleistungen in anderen Branchen, bei der Innovationsleistung (Stichwort Digitalisierung) und beim Nutzen aus medizin-technologischem und therapeutischem Fortschritt. Wir erhalten heute schnellere und patientenschonendere Eingriffe; minimalinvasive Techniken ermöglichen den Behandelten die schnellere Rückkehr an den Arbeitsplatz. Die Wertschöpfung fällt sodann an durch frühe Behandlung (ohne Wartelisten) und durch erhöhte Heilungserfolge bei Krankheiten, die früher zu Ausfällen geführt hätten oder zu schweren Folgekrankheiten führten. Die modernen Diagnosen und Therapien dienen nicht nur der Früherkennung von Krankheiten, sie sind auch Basis für die richtige Behandlung und ermöglichen meist rasche und vollständige Genesung. Sie bewirken für die meisten ein längeres Leben bei hoher Lebensqualität. Es resultiert insgesamt eine höhere Lebensqualität und ein gegenüber dem Ersten Weltkrieg um 30 volle Jahre erhöhten Lebensalter.
Wenn alle diese Wertschöpfungen quantifiziert würden, wäre die Gesundheitsdiskussion nach Corona sachlicher, objektiver und verantwortungsvoller. Leider bietet die Politik heute aber eine unsäglich dröge, vor sich hin dümpelnde Kostendämpfungsdiskussion mit viel Potential für Kollateralschäden. Damit soll nicht gesagt sein, dass in unserem Gesundheitswesen nicht Raum für Effizienzsteigerungen, Ressourcenoptimierung und Abbremsen der allzu steilen Kostenzunahme hat. Wir glauben aber, dass der Wettbewerb um Qualität und Preise das Gesundheitswesen viel effizienter weiterentwickeln können als Dirigismus, Planungsexzesse und Eingriffe des Staates.
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