Auch Ärzte lassen sich von Vorurteilen leiten

40 Prozent der Mediziner haben gewissen Patientengruppen gegenüber Vorurteile. Dies ergab eine grosse Erhebung. Je näher sie am Patienten sind, desto grösser sind die Vorbehalte.

, 20. Januar 2016 um 09:00
image
  • praxis
  • arbeitswelt
Haben Sie Vorbehalte gegenüber Übergewichtigen? Für wen nehmen Sie sich mehr Zeit – für Patienten oder für Patientinnen? Nimmt Ihre Freundlichkeit bei depressiven Patienten ab? Solche Fragen lassen sich Ärzte nicht gerne gefallen, denn sie greifen den Grundsatz an, dass alle Patienten medizinisch gleich zu behandeln sind. 
Das US-Branchenportal «Medscape» wollte genauer wissen, welche Rolle Vorurteile in der Arztpraxis spielen. Im Rahmen des «Lifestyle Reports 2016» führte es bei 15'800 Ärzten eine Umfrage zum Thema durch. 

Notfallmediziner haben am meisten Vorurteile

Die Frage «Haben Sie gewisse Vorurteile gegenüber Patienten?» bejahten 40 Prozent der Mediziner. Am meisten Vorurteile jene Ärzte zu, die in unmittelbarstem Patientenkontakt stehen: Notfallmediziner (62 Prozent), Orthopäden (50 Prozent) und Psychiater (48 Prozent). Auch Hausärzte und Gynäkologen (47 Prozent) bekennen sich zu gewissen Vorurteilen. 
Im Gegensatz dazu haben diejenigen Ärzte mit den geringsten persönlichen Kontakten laut eigener Einschätzung auch am wenigsten Vorurteile: Dazu gehören Pathologen (10 Prozent), Radiologen und Kardiologen (22 Prozent).

Vorbehalte gegenüber psychisch labilen Patienten

Die Faktoren, welche bei den Ärzten Vorbehalte hervorrufen, ergeben ein eindeutiges Bild: Emotionale Probleme (62 Prozent) und Gewicht (52 Prozent) der Patienten sind die häufigsten Treiber von Vorurteilen. 

  • Emotionale und schwierige Patienten: Als schwierige Patienten gelten solche mit Depressionen, Angststörungen, mehreren somatischen Beschwerden oder chronischen Schmerzen. Sie führen beim Arzt häufig «zu einer überwältigenden Mischung von Verzweiflung und Abneigung», wie es in der Studie heisst.
  • Dicke Patienten: Übergewichtige Patienten werden auch beim Arzt häufig kategorisiert. Allerdings hegen mehr Ärzte als Ärztinnen ihnen gegenüber Vorurteile. Interessant ist hier, dass die Behandlung durch die Vorurteile häufiger positiv als negativ beeinflusst wird. 

Auch Intelligenz, Sprachunterschiede, Alter sowie der finanzielle Status der Patienten leisten Vorurteilen Vorschub. Für Vorbehalte sorgen zudem Drogenmissbrauch, chronische Schmerzen und simulierende Patienten. 
Das Geschlecht der Patienten ist hingegen kein Stereotyp. Lediglich acht Prozent der befragten Mediziner geben an, Männer und Frauen wegen ihres Geschlechts unterschiedlich zu behandeln. 

Nicht zwingend negativer Einfluss auf die Behandlung

Interessant ist die Frage, ob die Behandlung durch die Vorurteile beeinflusst wird. Gemäss Umfrage ist das nur bei einem kleinen Anteil der Ärzte der Fall. Am ehesten lassen sich Notfallmediziner beeinflussen, gefolgt von plastischen Chirurgen und Orthopäden.
In der Studie wird betont, dass sich die Vorurteile – die ja meist negativ wahrgenommen werden – nicht zwingend negativ auf die Behandlung auswirken müssen, also in Form von weniger Zeit oder Freundlichkeit. Laut den eigenen Erwartungen der Ärzte:

  • 29 Prozent gaben einen negativen Effekt auf die Behandlung zu.
  • 25 Prozent der Befragten glaubt, dass Vorurteile überkompensiert werden, was zu freundlicherer oder längerer Behandlung führt.
  • 24 Prozent finden, dass ihre Vorurteile sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf die Behandlung haben. 

Alter macht milde

Immerhin: Die Umfrage zeigt auch, dass die Vorurteile mit dem Alter der Ärzte kontinuierlich abnehmen. 
Artikel teilen

Loading

Comment

Mehr zum Thema

image

Löhne: Gesundheitsbranche erwartet für 2026 nur ein kleines Plus

Die UBS prognostiziert einen durchschnittlichen Lohnanstieg von 1 Prozent. Damit dürfte das Gesundheitswesen im Mittelfeld liegen – nach einem ebenfalls verhaltenen Jahr 2025.

image

Der Mangel an selbständigen Ärzten wird sich nicht bessern

Eine Befragung – auch von Medizinstudenten – zeigt, dass ein unnötiger Flaschenhals bei der Organisation der Praktikumsplätze besteht.

image

Temporärarbeit in der Pflege: (K)ein Problem!

«Zu teuer, zu flexibel, zu problematisch?» Die Kritik an Temporärarbeit reisst nicht ab. Doch David Paulou, Direktor der grössten Schweizer Personalberatung im Gesundheitswesen, hält dagegen – mit Fakten, die das gängige Bild infrage stellen.

image

«Nulltoleranz» gegenüber Aggressionen am Spital Wallis

68 Prozent mehr Fälle von asozialem Verhalten in zwei Jahren – Eine neue Richtlinie und eine Sensibilisierungskampagne sollen künftig das Personal vor Übergriffen durch Patienten und Angehörige schützen.

image

Chirurgin oder Mutter? Wenn Karriere und Kinderwunsch kollidieren

Lange Arbeitszeiten, starrer Ausbildungsweg, kaum Spielraum für Teilzeit: Junge Chirurginnen verschieben oft ihre Mutterschaft. Das hat Konsequenzen – auch fürs Fachgebiet.

image

Zulassungs-Stau bei SIWF und MEBEKO: Zürich reagiert

Lange Wartezeiten bei der Titelanerkennung gefährden die medizinische Versorgung. Nun passt das Zürcher Amt für Gesundheit seine Praxis an und erlaubt es teilweise, Ärztinnen und Ärzte provisorisch einzusetzen.

Vom gleichen Autor

image

Pflege: Zu wenig Zeit für Patienten, zu viele Überstunden

Eine Umfrage des Pflegeberufsverbands SBK legt Schwachpunkte im Pflegealltag offen, die auch Risiken für die Patientensicherheit bergen.

image

Spital Frutigen: Personeller Aderlass in der Gynäkologie

Gleich zwei leitende Gynäkologen verlassen nach kurzer Zeit das Spital.

image

Spitalfinanzierung erhält gute Noten

Der Bundesrat zieht eine positive Bilanz der neuen Spitalfinanzierung. «Ein paar Schwachstellen» hat er dennoch ausgemacht.