Spitäler stellen derzeit ausgestiegene Pflegefachleute an, damit sie genug Personal für die erwartete Patientenwelle haben. Auch die diplomierte Expertin Intensivpflege Anja Christen. Sie hat heute ihren ersten Arbeitstag am Berner Inselspital. Vor vier Jahren stand sie zum letzten Mal an einem Spitalbett. Etwas aufgeregt sei sie, räumt sie ein. Doch eine ehemalige Arbeitskollegin habe sie beruhigt: Spitalpflege sei ähnlich wie Velofahren. Könne man es einmal, verlerne man es nie mehr. Im Interview erzählt Anja Christen, warum sie sich wiederanstellen liess, ob sie Angst vor dem Corona-Virus hat und warum sie überhaupt ausgestiegen ist.
Anja Christen, machen Sie an ihrem ersten Arbeitstag im Berner Inselspital schon die erste Schicht auf der Intensivstation?
Nein. Ich hole den Badge und die Kleider ab und bekomme mein Kästli zum Umziehen. Dann werden mir die Räume gezeigt und es gibt verschiedene Einführungen.
Können Sie dann gleich mit der Arbeit beginnen?
Nein. Einige Maschinen, zum Beispiel auch die Beatmungsgeräte, sind anders als vor vier Jahren. Dazu kommen die Medikamente: Sie müssen meistens in einer bestimmten Konzentration hergestellt werden, das muss ich nachlesen. Auch gewisse Richtwerte, die ich auswendig kannte, muss ich wieder lernen. Und ich werde Notfallszenarien trainieren müssen. Am Anfang werde ich vor allem jenen helfen, die bereits dort arbeiten. Dann gibt es so genanntes Bedside-Teaching: Man arbeitet zu zweit am Bett. Und die andere Person erklärt laufend, was sie macht und ich kann Fragen stellen. Ich bin froh, dass es jetzt noch etwas ruhig ist. Das können wir zum Einarbeiten ausnützen – und sind dann bereit, wenn es wirklich brennt.
Glauben Sie, dass sich der Spitalalltag so gross verändert hat in den letzten vier Jahren?
Im technischen Bereich sicher. Und was in der derzeitigen Situation auch anders ist: Besuche sind verboten. Das bedeutet, dass die Angehörigen anders betreut werden müssen.
Was wird vermutlich so sein, wie Sie es noch kennen?
Das Grundsätzliche der Pflege, das Waschen und Drehen der Patienten oder die Wundpflege; das wird nicht gross anders sein als vor vier Jahren. Deshalb wollte ich mich zuerst auch in einer normalen Abteilung melden. Dort könnte man mich bestimmt schneller als vollwertige Arbeitskraft einsetzen. Die Komplexität der Fälle und somit auch die Verantwortung ist auf der Intensivstation deutlich höher. Doch dann dachte ich mir: Man muss sich dort melden, wo man die höchste Ausbildung hat. Denn die spezialisierten Angestellten kann man weniger gut ersetzen.
Für welches Pensum sind Sie angestellt?
Ich bin mit einem «Covid-Vertrag» im Stundenlohn angestellt. Uns wurde gesagt, dass wir bis zu einem Vollpensum oder auch darüber hinaus arbeiten dürften…Es war alles sehr unbürokratisch.
Wie lange werden Sie am Inselspital bleiben?
Der «Covid-Vertrag» ist befristet bis 30. Juni – zumindest vorerst. Wie lange ich tatsächlich bleiben werde, weiss ich noch nicht. Ich muss einmal anfangen und schauen, was auf mich zukommt. Ich weiss zum Beispiel nicht, wie ich mit den neu eingeführten Zwölf-Stunden-Schichten klarkomme.
Ist der Lohn höher, tiefer oder gleich wie früher?
Etwa gleich hoch wie früher.
Beim Pflegepersonal ist das Risiko höher, mit dem Corona-Virus angesteckt zu werden. Rechnen Sie damit, angesteckt zu werden?
Davor habe ich keine Angst, sonst hätte ich mich nicht gemeldet. Ich muss sicher aufmerksam sein. Aber ich bin mir bewusst: in einem Notfall kann immer einmal eine Schutzbrille oder eine Maske verrutschen. Deshalb ist das Risiko einer Ansteckung sicher vorhanden.
Ihr Partner ist Arzt. Was findet er dazu, dass Sie wieder an die Front zurückkehren?
Er findet das gut, dass ich wieder einsteige und etwas bewirken möchte.
Sie haben sich selber als Wiedereinsteigerin gemeldet. Doch einige Kantone können ehemalige Pflegefachfrauen auch zum Wiedereinstieg verpflichten. Wie käme eine solche Verpflichtung bei Ihnen an?
Nicht gut. Ich glaube, dass viele Pflegefachleute hohe Ansprüche an sich selber stellen. Die Motivation sollte von innen kommen. Druck von aussen fände ich deshalb kontraproduktiv. Ich glaube auch nicht, dass jemand, der zum Wiedereinstieg gezwungen wird, besonders motiviert ist.
Warum haben Sie eigentlich aufgehört, im Spital zu arbeiten?
Wegen der unregelmässigen Arbeitszeit. Sie hat meine Beziehungen zu anderen Menschen belastet. Und auch mich selber: Wenn ich morgens nach einer Nachtschicht heimkam, fühlte ich mich, wie wenn mich ein Lastwagen überfahren hätte. Ich habe deshalb zu einer Spezialapotheke gewechselt, wo ich im Home-Care-Team Therapiebegleitungen durchführte. Doch ich muss sagen: Im Spital hatten wir ein gutes Team, und die Arbeit war sehr spannend, weil ich auch viel Verantwortung trug und immer wieder Neues lernte.
Dann ist es möglich, dass Sie definitiv wieder einsteigen?
Das kann ich noch nicht sagen. Aber ich hoffe, dass ich nach meinem Einsatz besser weiss, wo ich in Zukunft arbeiten möchte.
Anja Christen bewegt sich gerne - auf Langlaufskis, auf dem Rennvelo oder in Laufschuhen. Ob sie nach ihrem befristeten Wiedereinstieg wieder definitiv in einem Spital arbeiten will, weiss sie noch nicht. | Bild: privat