«Erhöhung des Selbstbehaltes führt zu steigenden Gesamtkosten»

Der frühere Direktor der Medizinischen Poliklinik des Universitätsspitals Genf (HUG) wendet sich gegen geplante Gebühren und höhere Selbstbehalte für Notfälle.

, 7. August 2017 um 08:23
image
Um die Notfallstationen zu entlasten, diskutieren Gesundheitspolitiker über die Einführung einer Gebühr für Notfälle. Hans Stalder, der frühere Direktor der Medizinischen Poliklinik des Genfer Universitätsspitals, kann dieser Idee nicht viel abgewinnen. Dies schreibt er in einem Gastkommentar in der «Neuen Zürcher Zeitung».
Der ehemalige Medizinprofessor der Uni Genf bezweifelt, dass Politiker oder Krankenkassenfunktionäre besser als ausgebildetes Pflegepersonal wissen, was eine Bagatelle sei. Auch Triage-Spezialisten am Hôpitaux universitaires de Genève (HUG) übersähen zehn Prozent der ernsteren Fälle, so Stalder.

Unsin Notfälle mit Arztbesuch zu vergleichen

Zudem handle es sich bei Notfallpatienten um eine sozial benachteiligte Patientengruppe. «Diese haben oft keine andere Möglichkeit, ans Gesundheitswesen zu gelangen, als eine Notfallstation zu konsultieren». 
Er nennt etwa Patienten ohne Hausärzte, Hausarzt nicht erreichbar, Ausländer, keine Kenntnisse der Landessprache und so weiter. Es sei deshalb Unsinn, so Hans Stalder weiter, die Kosten einer Notfallkonsultation mit einem üblichen Arztbesuch zu vergleichen, wie das der Krankenkassenverband Santésuisse getan habe.

Weniger ambulante Fälle, aber höhere Gesamtkosten

Der ehemalige Direktor der Medizinischen Poliklinik kritisiert im Beitrag auch eine Erhöhung der Kostenbeteiligung für Notfallpatienten. Es sei nicht offensichtlich, dass eine solche Erhöhung die Gesundheitskosten durch weniger Bagatellfälle sinken liesse.
Stalder zitiert dabei eine Studie, wonach eine Erhöhung des Selbstbehalts zwar zu weniger ambulanten Kosten führte. Allerdings nahmen die Gesundheitskosten insgesamt zu, da die Reduzierung der ambulanten Behandlungen zu einem Anstieg der Hospitalisationen führte.

Ambulante Fälle zu stationär verschieben

Vermögende Personen werden dem Mediziner zufolge die ambulante Behandlung weiterhin in Anspruch nehmen, während der schlechtergestellte Teil der Bevölkerung darauf verzichtet. Dies sei in der Schweiz im Übrigen bereits der Fall.
Ob es Zufall sei, dass Vorstösse im Parlament, die auf eine höhere Kostenbeteiligung abzielen, meist von Parlamentariern mit Interessenverbindungen zu Krankenversicherern stammen, fragt sich Hans Stalder schliesslich.
Eine Erhöhung der Franchise, die zwar die ambulanten Kosten senke, die Anzahl Spitalbehandlungen jedoch erhöhe, interpretiert der ehemalige Medizinprofessor daher als Versuch der Kassen, eine Erhöhung der Beitragssätze zu vermindern. «Die steigenden Gesamtkosten sollen dann die Patienten und der Staat tragen», hält Stalder fest. 

Gebühren für Notfallpatienten? Falsch interpretierte «Bobologie», Gastkommentar Hans Stalder, in: «Neue Zürcher Zeitung», 3. August.


Artikel teilen

Loading

Comment

Mehr zum Thema

image

Zürich: Fliegender Wechsel im Amt für Gesundheit

Jörg Gruber folgt auf Peter Indra, der sich «neuen Aufgaben zuwenden» möchte.

image
Gastbeitrag von Andri Silberschmidt

Es braucht mehr Wettbewerb bei den Laboranalysen

Ärztetarife werden ausgehandelt – aber bei den medizinischen Labors legt der Staat die Preise fest. Warum? Und vor allem: Wie lange noch?

image

Spitalplanung: Zusätzlicher Druck auf die Kantone

Die Kantone sollen nicht nur die Spitallisten koordinieren – sie sollen auch die Leistungsaufträge aufeinander abstimmen und gemeinsam erteilen.

image

«Vorstossinflation» zur Sicherung der Grundversorgung

Noch ehe die in Auftrag gegebenen Berichte vorliegen, verlangt das Parlament neue Bundesgesetze.

image

Freiburg: Radiologie-Techniker beklagen unfaires Vorgehen

Die Radiologiefachleute des Freiburger Spitals fechten ihre Lohneinstufung weiter an. Die Bewertungskommission sei ungerecht zusammengesetzt.

image

Parlament will Kinderpsychiatrie besser finanzieren

Mit grossem Mehr unterstützt das Parlament eine Motion, die so nicht umsetzbar ist.

Vom gleichen Autor

image

Arzthaftung: Bundesgericht weist Millionenklage einer Patientin ab

Bei einer Patientin traten nach einer Darmspiegelung unerwartet schwere Komplikationen auf. Das Bundesgericht stellt nun klar: Die Ärztin aus dem Kanton Aargau kann sich auf die «hypothetische Einwilligung» der Patientin berufen.

image

Studie zeigt geringen Einfluss von Wettbewerb auf chirurgische Ergebnisse

Neue Studie aus den USA wirft Fragen auf: Wettbewerb allein garantiert keine besseren Operationsergebnisse.

image

Warum im Medizinstudium viel Empathie verloren geht

Während der Ausbildung nimmt das Einfühlungsvermögen von angehenden Ärztinnen und Ärzten tendenziell ab: Das besagt eine neue Studie.