Die meisten Corona-Patienten wollten nicht ins Spital

Im Altersheim Les Lys in Prilly sind mehr als ein Drittel der Bewohner an Covid-19 gestorben. Der Direktor sagt, wie er damit umgeht.

, 17. Juni 2020 um 05:00
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Das Altersheim Les Lys in Prilly zahlte für die Pandemie einen hohen Preis: 22 Bewohner starben. Schonungslos erzählt Christian Weiler, Direktor des Altersheims Les Lys in Prilly, in einem Interview mit der Waadtländer Ärzte-Zeitschrift «Courrier du médecin vaudois», was Covid-19 in seinem Haus angerichtet hat.

Wie viele Bewohner des Altersheims Le Lys waren bis am 14. Mai von Covid-19 betroffen?

Von unseren 59 Einwohnern waren 39 positiv auf Covid-19 getestet worden und bisher hatten wir 22 Todesfälle. 70 unserer 240 Mitarbeitenden blieben zuhause, 15 wurden positiv getestet und ein Dutzend zeigte unklare Symptome.

Wie lässt sich die hohe Sterblichkeit in Ihrem Heim erklären?

Der Hauptgrund ist, dass wir Leute aufnehmen, die schon vor dem Ausbruch von Covid-19 sehr verletzlich waren. Ein weiterer Grund ist, dass wir von unseren Auszubildenden massiv infiziert worden sind. Sieben von ihnen hatten sich an einem Abend in der ersten Woche infiziert. Die 17 Bewohner, die als erste krank wurden, starben alle. Es ist schwierig, bei Menschen mit Demenz Schutzkonzepte anzuwenden.

Was haben Sie für Massnahmen ergriffen?

Wir haben sehr schnell eine abgeschlossene Covid-19-Abteilung eingerichtet, die ausschliesslich für ausgebildetes und ausgerüstetes Personal zugänglich war. Dann haben wir Vorsorgemassnahmen ergriffen. Wir haben die Temperatur der Bewohner und Angestellten täglich überprüft. Alle Bewohner mit Symptomen wurden isoliert und getestet. Wir haben zu spät gemerkt, dass die Temperatur ein Symptom ist, das bei Infizierten erst spät auftritt. Wir hatten auch alle Neuaufnahmen gestoppt. Die Covid-Zone, die wir bald schliessen werden, wird als Quarantänezone für alle Neuaufnahmen dienen.

Hatten Sie am Anfang genug Schutzmaterial fürs Pflegepersonal und die Bewohner?

Die kantonalen Vorgaben waren von Anfang an unklar und kaum geeignet für uns. Wir haben deshalb unseren gesunden Menschenverstand und unser praktisches Fachwissen genutzt. Wir hatten chirurgische Masken in Reserve, und ich ging selber zu einem Bauern, um destillierten Alkohol zu kaufen. Ich liess ihn dann bei unserem Apotheker in eine hydroalkoholische Lösung umwandeln. Ich habe auch Schutzbrillen in einem Geschäft erhalten, das geschlossen war, und wir haben an Visieren herumgebastelt, um vor Ort Abstriche durchzuführen.

Haben Sie mobile Hilfe-Teams eingesetzt?

Bei Bedarf, ja. Die Tests wurden vor Ort durchgeführt, und unerlässlich für uns war auch die Unterstützung bei der Palliativversorgung . Als der Kantonsarzt nach langem entschied, die Zusammenarbeit mit den mobilen Teams für obligatorisch zu erklären, wurde das intern als Mangel an Vertrauen und als Demütigung empfunden. Diese Form der «Kontrolle» nach mehr als drei Wochen Kampf war nicht nur Zeitverschwendung, sondern auch mangelnde Wertschätzung unseres Einsatzes in dieser Krise. Dazu passt auch das: Ein Arzt, der zu uns kam, betrat unsere Covid-Zone mit einer FFP2-Maske und Handschuhen. Dabei haben wir unseren Teams seit Wochen erklärt, dass diese Schutzmaßnahmen bei uns nicht angemessen sind!

Haben Sie logistische und psychologische Unterstützung von den kantonalen Behörden erhalten?

Aus unserer Sicht hatten unsere Behörden gewisse Schwierigkeiten, Strukturen aufzubauen, die unseren Bedürfnissen entsprachen. Unsere Stiftung hat uns sehr aktiv dabei geholfen, uns in der Flut von Informationen zurechtzufinden. Die wichtigste Unterstützung war die fantastische Arbeit der Medizin- und Krankenpflegestudenten, die kamen, um uns zu helfen. Die Armee und der Zivilschutz waren ebenfalls sehr hilfreich.

Haben die Behörden in der Krisensituation schnell genug reagiert?

Für die Spitäler wahrscheinlich schon, aber für die Altersheime war es etwas spät. Das hängt wahrscheinlich mit dem zusammen, was international passiert ist. Wir fürchten, dass unsere Angebote selten Vorrang für die öffentliche Gesundheit haben. Schwierig ist auch die Regionalisierung, weil die Waadt eine sehr unterschiedliche Bevölkerungsdichte hat. Die Region Lausanne macht 47 Prozent der Waadtländer Bevölkerung aus und umfasst einen grossen Teil der kantonalen Angebote. Am Ende der Krise müssen wir diese Organisationsweise mit Blick auf die Ereignisse wohl untersuchen.

Wer hat die Wahl getroffen, ob betroffene Bewohner ins Spital eingeliefert werden oder nicht?

Die Person selbst oder ihre Betreuungspersonen. Zudem vereinbaren wir sowieso mit allen Bewohnern vorab, was sie wünschen. Wir sind an diese Situationen gewöhnt, auch ausserhalb einer Pandemie.

Konnten einige Bewohner nicht ins Spital eingeliefert werden?

Nein. Alle, die es brauchten und wollten, wurden ins Universitätsspital in Lausanne eingeliefert. Das waren fünf Bewohner. Alle von ihnen sind leider gestorben.

Haben sich Bewohner auch geweigert, ins Spital eingeliefert zu werden?

Eine grosse Mehrheit entschied sich für eine palliative Pflege, wie sie sie oft schon vor der Krise erhalten haben.

Welche Auswirkung hatte das Besuchsverbot auf die Bewohner?

Die Bewohner mit Covid-19 litten nicht zu sehr, weil sie schnell mit hohem Fieber bettlägerig waren. Aber die anderen Bewohner und die Mitarbeiter mussten mit grosser Angst und dem Risiko einer Infektion fertig werden.

Hat das Pflegepersonal psychologische Unterstützung erhalten?

Ja, wir haben psychologische Unterstützung in Form von Einzelgesprächen oder in Gruppen von drei bis vier Personen angeboten. Mehrmals gab es auch Sitzungen mit der Abteilung Infektionsprävention des Universitätsspital. Dies hat hervorragende Arbeit geleistet.

Wie hat Ihr Altersheim die Beziehung zu den Familien der betroffenen Bewohner aufrechterhalten?

Zu jeder Zeit wurden Kontakte in verschiedenen Formen gepflegt: Besuche auf dem Balkon oder hinter einem Fenster, telefonische Kontakte oder per Videokonferenz. Wir haben mit grossen Vorsichtsmassnahmen auch Besuche von sterbenden Patienten erlaubt. Ausserdem haben wir Fotos und Videos gemacht, welche wir den Familien gaben, die das wünschten, weil sie oft nicht den letzten Augenblicken ihrer Eltern beiwohnen wollten. Schliesslich schickten wir wöchentlich einen Brief an die Familien der Bewohner, um die Situation so transparent wie möglich zu beschreiben. Darüber hinaus haben wir am Eingang des Altersheims ein Denkmal in Form eines grossen schwarzen Gefässes errichtet, das mit Blumen für jeden Verstorbenen bepflanzt ist. In einem Erinnerungsbuch kann jeder ein paar Worte hinterlassen.
Dieses Interview ist auf Französisch erschienen. Geführt hat es Aurélie Moeri Michielin.
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