Klagen und Rechtsverfahren werden zu einem stärker belastenden Thema bei Medizinern, in fast allen Industriestaaten steigen die entsprechenden Zahlen. In Grossbritannien etwa nahmen die Prozesse gegen Ärzte wegen echten oder vermeintlichen beruflichen Fehlern alleine seit 2010 um 64 Prozent zu. In den USA betrug das Wachstum laut einer älteren Erhebung zwischen 2008 und 2012 um 17 Prozent.
Klar weniger Disziplinarverfahren
Um das Phänomen besser zu verstehen, ging eine Gruppe von englischen Ärztinnen nun der Geschlechter-Frage nach. Ausgangspunkt war die Feststellung, dass es offenbar weniger standes- und aufsichtsrechtliche Disziplinarverfahren gegen Ärztinnen gibt: Dies besagte eine britische Studie aus dem Jahr 2013, bei der andere Erklärungsfaktoren – etwa Erfahrung oder Spezialisierung – herausgerechnet worden waren
Die Autorinnen der Medical School am University College London beziehungsweise am Royal College of Physicians unternahmen nun eine Meta-Analyse, bei der sie Studien aus mehreren Ländern zu Rate zogen: Hat man es hier mit einem angelsächsischen oder einem allgemeineren Problem zu tun?
In der systematic review wurden, basierend auf 32 Studien aus acht Ländern, über 40'000 solcher Streitigkeiten eingerechnet – standesrechtliche, aufsichtsrechtliche, zivilrechtliche, aber auch strafrechtliche Verfahren, in die Mediziner wegen beruflichen Mängeln verwickelt worden waren.
Das Ergebnis war sonnenklar: Eine fast vollständige Mehrheit der Erhebungen ergab, dass die untersuchten Männer häufiger in Konflikt mit Berufsorganen, Aufsichtsbehörden, Patienten oder schlicht mit dem Strafrecht kommen.
2,5 zu 1 – egal wo und wann
Rein statistisch ist die Gefahr solch eines Verfahrens für einen Mann knapp zweieinhalb mal so gross. Keine einzige Studie kam zum Schluss, dass sich Ärztinnen bei ihrer Arbeit eher rechtliche Probleme einhandelten.
Die Quote von etwa 2,5 zu 1 schien sich interessanterweise durch alle Erhebungsmethoden und alle Länder in etwa zu bestätigen. Und sie war auch über zahlreiche Jahre gültig (die frühesten Daten stammen aus den Achtzigerjahren). Schliesslich könnte sie auch über alle Fachgebiete hinweg in etwa zutreffen, wobei die Autorinnen in diesem Punkt allerdings lieber vorsichtig bleiben.
Was aber kann man daraus folgern? Dass Ärztinnen seriöser arbeiten? Oder dass das Umfeld schneller bereit ist, im Zweifelsfall gegen Ärzte vorzugehen? Das Team um Emily Unwin relativiert das:
- Sichtbar wurde zum Beispiel eine Kongruenz zwischen den gearbeiteten Wochenstunden und dem Risiko eines Rechtsstreits – und Medizinerinnen arbeiten bekanntlich eher Teilzeit als Mediziner.
Mehr falsche Beschuldigungen
Denkbar auch, dass Männer eher kritisch angegangen werden, dass sie in riskanteren Bereichen tätig sind – oder auch exponierter sind. Ein Beispiel: Wie Daten aus England zeigen, sind auch die Klagen von Patientinnen gegen Ärzte wegen sexuellen Fehlverhaltens in den letzten Jahren deutlich angestiegen sind – plus 66 Prozent zwischen 2003 und 2013. Dabei aber blieb die Zahl der wirklich angesetzten Verfahren oder gar Verurteilungen ziemlich konstant. Was also zunahm, war die Zahl der unschuldig Beschuldigten.
Auf solche Interpretationen wollen sich die Londoner Medizinerinnen allerdings nicht herauslassen. «Es braucht detailliertere Informationen um die Gründe zu verstehen, weshalb männliche Doktoren eher ein medizinrechtliches Verfahren gewärtigen müssen. Die Gründe scheinen komplex und multifaktoriell. Aber der erste Schritt besteht darin, anzuerkennen, dass es solch einen Unterschied gibt. Und diese Studie zeigt dies zuverlässig.»