Wenn es um innovative Medikamente geht, sind die Menschen hierzulande eher mässig gut dran: Denn die Schweiz liegt beim Zugang zu neuen Heilmitteln auf Platz 7 in Europa. Und bei den Medikamenten gegen seltene Krankheiten rangiert sie sogar auf Rang 9.
Dies besagt der neue «Wait Indicator», der vom Institut IQVIA erarbeitet wird. Gegenüber dem Vorjahr rutschte die Schweiz beim Zugang zu neuen innovativen Heilmitteln um einen Rang ab. Sie steht nun zwischen Belgien und Bulgarien; Spitzenreiter ist Deutschland.
Konkret nimmt die Studie jene innovativen Medikamente, die von 2020 bis 2023 durch die EU-Kontrollbehörde EMA zugelassen wurden. Danach wird überprüft, wieviele davon in einem Land voll oder teilweise oder nur privat oder gar nicht verfügbar sind. Während also beispielsweise in Deutschland 90 Prozent der neuen Mittel zum Messzeitpunkt voll verfügbar waren, lag die Quote auf der Schweizer Spezialitätenliste bei 47 Prozent.
«Eine Patientin in Kreuzlingen hat nur halb so viele Therapieoptionen wie eine Patientin in Konstanz», resümierte René Buholzer, der Direktor des Branchenverbands Interpharma, die Ergebnisse bei der Präsentation in Zürich.
Dass es dabei stark um Preiskämpfe geht, zeigt sich unter anderem daran, dass zwei tendenziell teure Felder besonders betroffen sind: nämlich erstens die Onkologie – hier war der Rückgang besonders deutlich. Und zweitens ist die Schweizer Versorgungslage bei Medikamenten gegen seltene Krankheiten speziell trübe: Im Vergleich zu Deutschland werden hier bloss rund ein Drittel der sogenannten Orphan Drugs vergütet.
«Wenn man mir vor sieben Jahren gesagt hätte, dass die Schweiz praktisch aufs gleiche Niveau kommt wie Bulgarien, hätte ich es nicht geglaubt.»
Die neuen Daten des «Wait Indicator» nahmen Spitzenvertreter der hiesigen Pharmabranche zum Anlass, fundamentale Reformen des Schweizer Zulassungssystems zu fordern.
Denn ein Hauptproblem der Versorgung liege bei der veralteten und teils auch willkürlichen Preisfestsetzung, wenn es um die Krankenkassenpflicht geht, also um die Aufnahme in die Spezialitätenliste: Dies der Tenor eines gemeinsamen Auftritts von Sabine Bruckner (Geschäftsführerin Pfizer Schweiz), Katharina Gasser (Roche), Florian Saur (AstraZeneca), David Traub (Novartis) und Anne Mette Wiis Vogelsang (Novo Nordisk) in Zürich.
«Wenn man mir vor sieben Jahren prognostiziert hätte, dass die Schweiz praktisch auf das gleiche Niveau kommt wie Bulgarien, hätte ich es nicht geglaubt», kommentierte Interpharma-CEO René Buholzer die Entwicklung der letzten Jahre. Immerhin sei Bulgarien das ärmste Land in der EU. Und Katharina Gasser, die Schweiz-Chefin von Roche, fügte an: «Es schmerzt besonders, dass uns andere Länder überholen bei Medikamenten, die hierzulande entwickelt wurden.»
Die meisten Vorwürfe richteten sich dabei an das Preisfestsetzungs-Vefahren im Allgemeinen und an das Bundesamt für Gesundheit BAG im Besonderen.
BAG schränkt Patientenkreis ein
David Traub, der Geschäftsführer von Novartis Pharma Schweiz, nannte das Beispiel eines Krebsmedikaments: Swissmedic hatte es wegen seiner Bedeutung in einem beschleunigten Verfahren zugelassen. Als es dann um die Aufnahme in die Spezialitätenliste ging, verglich es das BAG mit einer zwei Jahrzehnte alten Standardtherapie mit anderem Wirkungsprofil – und formulierte daraus einen Preis für das Produkt.
Resultat: Das Krebsmedikament ist heute international verfügbar und vergütet, aber nicht in der Schweiz.
Florian Saur von AstraZeneca Schweiz schildete den Fall eines Asthmamedikaments. Das BAG schränkte die Vergütung des Medikaments auf eine kleine Patientengruppe ein, obwohl Swissmedic es für eine viel grössere Patientengruppe zugelassen hatte. Dabei lag die Preisvorstellung des BAG bei einem Dreissigstel des europäischen Durchschnitts.
Stichwort: Value-based healthcare
Die geschilderten Probleme deuteten eine gewisse Willkür beim Bundesamt an: Einschränkung des Patientenkreises (entgegen Swissmedic-Entscheid); keine Berücksichtigung des Zusatznutzens, sondern schlichter Preisvergleich; Verzögerung der Zulassung. Das Gesetz sieht zum Beispiel vor, dass das BAG die neuen Medikamente innert 60 Tagen nach der Swissmedic-Bewilligung auf die Spezialitätenliste setzt (beziehungsweise darüber entscheidet). Diese Frist wird
bekanntlich meist nicht eingehalten.
Und schliesslich würden einfach Vergütungspreise unter dem europäischen Durchschnitt festgesetzt – weshalb Hersteller gar nicht auf den Schweizer Markt kommen.
Die Pharma-Vertreter fordern nun einen Umbau des Preisfestsetzungs-Verfahrens: Es sei veraltet. Das Hauptanliegen: weniger Kostenröhrenblick – stärkerer Fokus auf den Gesamtnutzen. Wenn ein Medikament neu ist, müsse auch der Nutzen berücksichtigt werden: «Dieser Ansatz wäre unter dem Namen 'value-based healthcare' eigentlich bekannt», sagte Interpharma-CEO René Buholzer.
«Ein modernes System mit klaren Regeln ist überfällig – Vorschläge der Industrie liegen seit Langem auf dem Tisch», so die Geschäftsführerin von Pfizer Schweiz, Sabine Bruckner. Ohne Reformen werde der kleine Schweizer Markt weiter an Attraktivität verlieren. Was wiederum die Versorgung von Patienten und Patientinnen gefährde.
Kurz:
Die Schweiz landet beim Zugang zu innovativen Medikamenten im europäischen Vergleich im Mittelfeld. Laut dem aktuellen «Wait Indicator» des Instituts IQVIA liegt sie insgesamt auf Rang 7, bei Orphan Drugs auf Platz 9. Gründe sind laut Pharmavertretern veraltete und willkürliche Preisfestsetzungsverfahren sowie lange Verzögerungen bei der Aufnahme in die Spezialitätenliste. Die Unternehmen beklagen, dass Medikamente in der Schweiz deutlich später oder gar nicht verfügbar sind für Kassenpatienten – obwohl sie von Swissmedic zugelassen wurden. Die Industrie fordert nun eine Reform mit Fokus auf Nutzenbewertung («value-based healthcare»).