Ärzte sollen heilen, nicht vorbeugen

Prävention hat längst einen festen Platz in der Grundversorgung. Doch nun regen Mediziner einen Kurswechsel an: Sie erkennen Prävention als Problem.

, 24. Januar 2025 um 12:20
letzte Aktualisierung: 28. Februar 2025 um 15:03
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KI-Symbolbild: Medinside (mit Midjourney)
Es ist auf den ersten Blick eine überraschende Idee, die das «British Medical Journal» unlängst vertrat: Prävention ist ein Problem – so lautete die These kurz zusammengefasst.
Konkreter verlangte eine internationale Hausärzte- und Professoren-Gruppe, dass die Grundversorger viel stärker von Präventions-Aufgaben und -Rollen entlastet werden.
Oder umgekehrt: Die Autoren monierten, dass präventive Massnahmen und Ideen inzwischen allzu grosse Teile der Bevölkerung betreffen – längst nicht mehr bloss Menschen mit erhöhtem Risiko. Dies wiederum leite allzu viele Menschen in die Arztpraxen, obwohl sie dort nicht hingehören.
  • Stephen A. Martin, Minna Johansson, Iona Heath, Richard Lehman, Christina Korownyk: «Sacrificing patient care for prevention: distortion of the role of general practice», in: «British Medical Journal», Januar 2025.
  • doi: 10.1136/bmj-2024-080811
«Sacrificing patient care for prevention: distortion of the role of general practice», so der Titel der «Analysis» im weltweit renommierten BMJ, oder zu Deutsch: «Patientenversorgung zugunsten der Prävention opfern: Verzerrung der Rolle der Grundversorgung.»
Damit ist insbesondere die Grundversorgung in den reichen Ländern gemeint.
«Jahrtausendelang kümmerten sich Ärzte ausschliesslich um kranke Menschen. Erst in den letzten fünf Jahrzehnten wurde der Fokus der Grundversorgung zunehmend auf das Risiko und weg von den Symptomen verlagert», schreiben Stephen A. Martin (University of Massachusetts), Minna Johansson (Sahlgrenska Academy Göteborg), Iona Heath (Royal College of Practitioners London), Richard Lehman (University of Birmingham) und Christina Korownyk (University of Alberta).

Linderung von Leiden?

Die ersten Präventions-Interventionen in Hausarztpraxen waren diuretische Behandlungen zur Senkung des Blutdrucks, beginnend in den 1960ern. Doch dieses Angebot richtete sich noch vollends an eine Hochrisiko-Gruppe. Mit der Zeit sanken die Anforderungen aber stetig ab – Vorsorge-Untersuchungen, Tests, Checkups et cetera wurden und werden zum Standard für einen grossen Teil der Bevölkerung.
Damit aber werde die Aufgabe der Hausärzte abgeschwächt, verwässert, um nicht zu sagen bagatellisiert. «Obwohl der Grundsatz ‚Vorbeugen ist besser als heilen‘ intuitiv ansprechend ist, ist er auch empirisch beschränkt, und er verfälscht klinische Zusammenhänge», heisst es im BMJ-Appell: «Die Ausweitung und Konzentration auf Prävention in der Grundversorgung für Patienten mit geringem Risiko ist unangebracht für einen Beruf, der sich der Linderung von Leiden widmet.»

Zeit zum Bremsen

In gewissen Gegenden oder Ländern entfällt mittlerweile mehr als die Hälfte des Arbeitstages eines Hausarztes auf Dienstleistungen, die mit Prävention zu tun haben, rechnen die Autoren vor – und zeigen damit auf, dass die Vorsorge letztlich in einem harten Konkurrenzverhältnis zur ärztlichen Kernaufgabe steht. Je knapper die Zeit, je rarer die Grundversorger, desto stärker.
Die Gewichtsverlagerung trage «wesentlich zur Krise der Primärversorgung in vielen Ländern mit hohem Einkommen bei», so das Fazit. Es sei an der Zeit, «die Begeisterung für klinische Präventions-Schritte mit minimalem Nutzen bei asymptomatischen Bevölkerungsgruppen mit geringem Risiko» zu bremsen. Die Verantwortung für Krankheitsprävention liege nicht in den Arztpraxen – sondern sie gehöre zurück in die öffentliche Gesundheitsfürsorge.
Bezogen auf die Schweiz hiesse dies, dass der Grundversicherungs-Katalog wieder einmal auf Präventions-Angebote überprüft werden könnte – verbunden mit der Frage, welche dieser Angebote besser anderweitig angesiedelt wären.
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