«Psychiatrische Grundpflege»: Eine neue Kostenlawine für die Krankenkassen?

Ein Bundesgerichts-Urteil lässt aufhorchen: Danach sollen auch Laien eine Entschädigung für psychiatrische Pflege von Angehörigen erhalten.

, 17. Juni 2024 um 02:00
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Symbolbild: J W on Unsplash
Das Bundesgericht wies Anfang Mai einen Rekurs der Krankenkasse EGK beziehungsweise ein Urteil des Glarner Verwaltungsgerichts zurück – und unterstützte eine Frau, die für ihren Sohn sorgt. Es beschied, dass die Mutter nicht nur für die allgemeine Grundpflege entschädigt werden muss; sondern dass darüber hinaus ihre psychische Betreuungsarbeit entgolten wird: Es sei «festzuhalten, dass der umstrittene Anspruch auf psychiatrische Grundpflege weder zufolge Ausführung durch die Mutter des Versicherten noch aufgrund einer fehlenden Diagnose verneint werden kann», so das Urteil.
Der Sohn ist heute 24 Jahre alt und hat ein Fragiles-X-Syndrom mit Autismus-Spektrum-Störung. Die Mutter hatte bei der Krankenkasse für den Zeitraum von April bis September 2021 einen Aufwand von 9,3 Stunden beantragt, an sieben Tagen pro Woche – zu einem Stundensatz von 52,60 Franken, wie die «Sonntagszeitung» berichtet. Dies ergibt eine monatliche Vergütung von rund 15’000 Franken.
  • Bundesgerichtsurteil 9C_385/2023 vom 8. Mai 2024.
Die Krankenkasse führte an, dass die Mutter für solch eine psychiatrische Grundbetreuung nicht qualifiziert sei. Doch diesen wichtigen Punkt wies das oberste Gericht nun zurück: Es stehe erstens fest, dass die Entschädigungspflicht «sinngemäss auch auf die psychiatrische Grundpflege … anwendbar ist».
Und weiter: «Dass die Mutter des Beschwerdeführers hinreichend instruiert und überwacht wird sowie grundsätzlich fähig ist, die fraglichen Leistungen in genügender Qualität zu erbringen, steht ausser Frage. Die Vorinstanz hat Recht verletzt, indem sie die umstrittene Leistungspflicht der EGK mit dem Argument der ungenügenden fachlichen Qualifikation der Mutter des Beschwerdeführers verneint hat.»
In der SoZ bezeichnet es Santésuisse-Ökonom Christoph Kilchenmann als «komplett übertrieben, jeden Monat einen so hohen Betrag über die Grundversicherung abrechnen zu können für die Pflege des eigenen Kinds in den eigenen vier Wänden.» Das Beispiel zeige, dass jetzt klare Rahmenbedingungen nötig werden, um die Prämienzahler zu schützen.

Zurück zum Gesetzgeber?

Der heikle Punkt dabei: Die Dauer der anrechenbaren Betreuung im eigenen Heim ist ungeklärt; dies macht das neue Urteil definitiv spürbar. Und gerade dadurch können Summen wie im behandelten Fall entstehen.
«Das Urteil kann dazu führen, dass Krankenkassen in Zukunft sehr viel höhere Pflegeleistungen von Angehörigen übernehmen müssen, weil die psychiatrische Grundpflege im Gesetz kaum eingeschränkt ist», so der UZH-Sozialversicherungs-Rechtler Michael E. Meier in der «Sonntagszeitung».
Und Sozialversicherungsanwalt Ueli Kieser meint: «Nach dem Urteil ist wohl eine Verordnungsergänzung notwendig, die den Umfang der psychiatrischen Grundpflege klar definiert, sonst kann das für die Krankenkassen sehr hohe Kosten verursachen.»
  • psychiatrie
  • Gesundheitskosten
  • Langzeitpflege
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