Diese Studie lässt aufhorchen: Soldaten im Krieg und Corona-Mitarbeitende im Gesundheitswesens weisen in etwa gleichem Masse «moralische Verletzungen» auf. Dies geht aus einer aktuellen Erhebung von Forschern um die renommierte US-Universität Duke hervor. Analysiert haben die Wissenschaftler Daten von über 2'00 Beschäftigten im Gesundheitswesen an der Pandemie-Front sowie über 600 Militärveteranen, die nach dem 11. September 2001 in Afghanistan oder Irak im harten Kriegseinsatz standen.
Die Definition von moralischer Verletzung bezieht sich auf das Erleben eines Verstosses gegen Moral und Ethik. Dies beinhaltet starke kognitive und emotionale Reaktionen nach gewissen Ereignissen. Der Schaden bezieht sich dabei auf das Gewissen oder auf die Identität von Menschen, die Zeugen von Handlungen werden, die gegen ihre eigenen moralischen Kodex verstossen.
«Moralische Verletzungen» führen zum Burnout
Moralische Verletzungen werden zwar nicht als psychische Krankheiten eingestuft, stehen aber in Zusammenhang mit post-traumatischen Belastungsstörung, Depressionen, sozialer Isolation und Suizidalität. Bei Beschäftigten im Gesundheitswesen führt dieses Phänomen gemäss Experten auch zu einer höheren Burnout-Rate.
Da erfahrungsgemäss mehr Männer als Frauen in echte Kriegseinsätze geschickt werden und Gesundheitsberufe oftmals durch Frauen geprägt sind, beziehen sich die Daten bei den Militärangehörigen auf rund 80 Prozent Männer; umgekehrt sind es beim Gesundheitspersonal 80 Prozent Frauen. Beide Gruppen waren im Schnitt um die 45 Jahre alt.
Nicht nur mangelnde Schutzausrüstung
Übermässige Gewissensbisse treten etwa auf, wenn die Werte und Überzeugungen von Gesundheitsprofis mit ihren Handlungen oder der Art und Weise, wie sie andere handeln sehen, in Konflikt geraten. Im Kontext des Gesundheitswesens bedeutet dies, dass man aufgrund der Komplexität der Pandemie nicht in der Lage war, das Niveau der Pflege zu leisten, das man eben gerne leisten würde.
Das Gesundheitspersonal litt während der Pandemie bekanntlich unter anderem an Personalmangel, Rationierung von Pflege und persönlicher Schutzausrüstung. Die moralischen Verletzungen sind zudem insbesondere auf das häufige Miterleben des Sterbens von Patienten und die mit der Pandemie verbundene Einschränkung für Angehörige zurückzuführen.
Gesundheitsprofis fühlte sich «verraten»
Zu den moralischen Verletzungen gehört aber auch die Tatsache, dass Menschen auf der ganzen Welt auf Evidenz basierende medizinische Ratschläge zur Verhinderung der Ausbreitung des Virus einfach ignorierten, etwa das Tragen einer Maske oder die Impfung.
In der Studie wurde ferner festgestellt, dass sich viele Mitarbeitende des Gesundheitswesen sich zu verschiedenen Zeiten während der Pandemie «verraten» fühlte. Dabei könne es sich um Verrat durch Politiker, Spitaldirektoren oder die Gesellschaft im Allgemeinen handeln.
Wie der Beschuss eines Fahrzeugs mit Zivilisten
Schlimm war für das Gesundheitspersonal darüber hinaus, dass die Menschen offen ihr Misstrauen gegenüber der medizinischen und wissenschaftlichen Gemeinschaft zum Ausdruck brachten, nachdem das Pflegeperson alles für die Covid-Patienten getan habe.
Als Vergleich zum militärischen Umfeld: Für einen Soldaten kann eine moralische Verletzung zum Beispiel eine Kampfsituation darstellen, in der er auf ein Fahrzeug schiesst, das an einem Kontrollpunkt nicht angehalten hat, und dann feststellt, dass sich darin Zivilisten befinden.
Seelsorge für das Personal miteinbeziehen
Für die Studienautoren gilt es, diese Resultate und das Phänomen moralischer Verletzungen beim Gesundheitspersonal ernst zu nehmen. Als Massnahmen nennen sie etwa die Zusammenarbeit zwischen Seelsorgern und Anbietern psychosozialer Dienste als viel versprechender Ansatz. An der Front, sowohl in Spitälern als auch im Krieg, beginnen die Menschen oft, ihr Selbstverständnis in Frage zu stellen. Unabhängig davon, ob sie sich als religiös bezeichnen oder nicht, suchten sie oft Seelsorger auf, die ihnen Fragen über das Dilemma zwischen ihrer beruflichen Identität und ihrem Sinn beantworten.