In der Schweizer Gesundheitspolitik gäbe es seit Jahren einen Reformstau, wird landauf und landab geklagt. Falsch! Bundesbern und die Kantone regulieren zu viel und falsch. Die unzähligen Versuche, jede unerwünschte Nebenwirkung einer Regulierung mit noch mehr Regulierung zu beseitigen, als Reformstau zu bezeichnen, ist pervers. Schauen wir uns das am Beispiel Ärztetarif (Tarmed) an. Das ist ein sogenannter Einzelleistungstarif mit über 4'000 Positionen, die für die Abrechnung von ambulanten Leistungen von Arztpraxen und Spitälern zur Verfügung stehen. Nach diesem Tarifsystem bezahlen die Krankenkassen Rechnungen mit einem jährlichen Gesamttotal von über 12 Milliarden Franken.
Weil sich die Medizin rasch entwickelt, müsste das Tarifsystem von den Tarifpartnern regelmässig angepasst werden. Sie schaffen das nicht, weil sie laut KVG mit dem Vertragszwang sozusagen zwangsverheiratet sind. In anderen Branchen gilt: Wer sich nicht einig wird, macht kein Geschäft. Da laut KVG für Pflichtleistungen immer ein Tarif gilt, entweder ein verhandelter oder behördlich festgesetzter, kann eine Festsetzung unter Umständen besser als eine Verhandlungslösung sein. Tarifpartner sind auf der Seite der Versicherungen die Kassenverbände curafutura und santésuisse sowie die Medizinaltarif-Kommission UVG (MTK) für die obligatorische Unfallversicherung. Der Tarmed gilt auch für die Militär- und Invalidenversicherung. Die Ärzte sind durch den Ärzteverband FMH, die Spitäler durch den Spitalverband H+ vertreten. Der Hauptgrund für die Blockade ist, dass sich die beiden Krankenkassenverbände santésuisse und curafutura nicht einig sind, die Verbände der Leistungserbringer FMH und H+ auch nicht.
curafutura hat mit der FMH dem Bundesrat einen neuen Ärztetarif mit dem Namen «Tardoc» eingereicht. Bundesrat Berset hat keine Lust, diesen Tarif zu genehmigen und es den Ärzten, Spitälern und Versicherern zu überlassen, ob sie dem neuen Tarifsystem beitreten oder nach dem alten Tarmed abrechnen wollen. Er möchte für alle ambulanten Arztleistungen zu Lasten von Sozialversicherungen ein schweizweit einheitliches Tarifsystem und ein nationales Tarifbüro, das dieses Tarifsystem pflegt, so wie die SwissDRG AG schon jetzt das schweizweit einheitliche System der stationären Fallpauschaltarife pflegt. Da die gesetzliche Grundlage dafür noch nicht existiert, spielt der Gesundheitsminister auf Zeit und lässt die Antragsteller warten. Dem anderen Krankenkassenverband santésuisse, der zusammen mit dem Dachverband der Chirurgen fmCh ambulante Pauschaltarife verhandelt, geht es nicht besser.
Tarifsysteme und Tarife orientieren sich laut KVG an der Entschädigung jener Leistungserbringer, welche die tarifierte obligatorisch versicherte Leistung in der notwendigen Qualität effizient und günstig erbringen. Was die notwendige Qualität, was effizient und kostengünstig genau ist, steht nicht im KVG. Die notwendige Qualität muss auch nicht im KVG definiert werden, denn diese müssen die Kantone definieren, um ihrer gesundheitspolizeilichen Aufgabe gerecht zu werden, indem sie Gesundheitsfachpersonen sowie Institutionen aus dem Verkehr zu ziehen, die Patienten gefährden. Weil Kantonsärzte die Patientensicherheit gewährleisten, egal wer die Leistungen bezahlt, gehören Details, wie die Qualität gesichert werden muss, nicht ins KVG. Und die Qualitätssicherung ist auch keine Aufgabe der Verbände, sondern der von den Kantonen zugelassenen Gesundheitsfachleute und Institutionen. Das KVG schreibt hingegen Qualitätstransparenz vor, damit die Patienten unter den von den Kantonen zugelassenen Leistungserbringern datengestützt die für sie passenden auswählen können. Was für die Qualität gelten sollte, müsste auch für die Tarife gelten.
Ob und wie sich Tarifpartner einigen müssen, sollte der Staat nicht vorschreiben. Das KVG sollte lediglich festhalten, dass das BAG nur Tarifpartner berücksichtigt, die sich einigen, zu welchen Tarifen KVG-Pflichtleistungen erbracht und abgerechnet werden. Und vergütet sollte primär der Therapieerfolg werden und nicht der Aufwand ohne Erfolg. Krankenversicherer und medizinische Leistungserbringer, die keinen Tarifvertrag vereinbaren und auch keinem Tarifvertrag beitreten, sind vom KVG-Geschäft auszuschliessen. Der Anreiz, am Gesundheitsmarkt teilnehmen zu dürfen, würde nachhaltiger wirken als der aktuelle Vertragszwang. Auch im Geltungsbereich des KVG sollte das Kartellrecht durchgesetzt werden, denn Verbände müssen stets auf ihre Mitglieder in den hintersten Reihen Rücksicht nehmen. Das Kartellrecht verbietet genau das, weil diese Rücksichtnahme den innovativen Verbandsmitgliedern keinen Vorsprung auf die Konkurrenz erlaubt. Und wer keinen Gewinn erzielen darf und auch keinen Konkurrenzvorteil hat, ist wenig motiviert, seinen Kunden neue, bessere und günstigere Leistungen anzubieten.
Folgende drei Grundsätze würden genügen, um das aktuelle Zuständigkeitsdurcheinander zwischen Bund, Kantonen und Verbänden mit immer mehr und immer komplizierterer Regulierung zu vereinfachen sowie für alle Beteiligten attraktiver zu machen:
- Gesundheitsfachpersonen und Institutionen, die Patienten gefährden, bekommen keine kantonale Bewilligung.
- Gesundheitsfachpersonen und Institutionen, die ihre Qualität nicht für Laien verständlich publizieren, können nicht zu Lasten der Sozialversicherungen abrechnen.
- Versicherer und medizinische Leistungserbringer, die keine Tarifverträge abschliessen, werden vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) nicht zum KVG-Geschäft zugelassen.
Hinter der Idee national einheitlicher Tarifsysteme steckt die Überzeugung, dass einheitlich für alle auch einfacher und gerechter ist. Die komplizierten Tarifsysteme sowie die langen Tarif- und Preisverhandlungen - oft ohne Einigung - zeigen aber, dass einheitlich meistens bloss komplizierter und ungerechter ist. Es wäre also besser, die Zwangsheirat der Tarifpartner im KVG abzuschaffen und nur die Vertragspartner zu akzeptieren, die sich vertraglich einigen. Und Vertragsfreiheit ist ja kein rechtsfreier Raum, wie man in anderen Wirtschaftszweigen längst weiss. Und wer den Vertragszwang nicht abschaffen will, sollte mindestens die Vertragspartner nicht behindern, die sich vertraglich einigen. Das sind insbesondere die Versicherer und Leistungserbringer, die im Bereich der alternativen Versicherungsmodelle mit über 60 Prozent der Grundversicherten vertraglich einigen.