Hier gibt es Hanf-Tropfen für die Betagten

Mehrere Bewohner des Alterszentrums Ins erhalten medizinisches Cannabis statt starker Beruhigungsmittel. Sie sind entspannter und weniger aggressiv.

, 25. Mai 2022 um 09:43
image
  • pflege
  • cannabis
  • psychopharmaka
Zu viele alte Menschen würden zu oft und zu lang mit Medikamenten ruhiggestellt. Das kritisieren Fachleute immer wieder. Seit 2021 versucht es das Alterszentrum Ins deshalb auf einem anderen Weg: Bewohner – derzeit sind es fünf – erhalten medizinisches Cannabis statt Psychopharmaka.

Halb THC - halb CBD

Das verabreichte Cannabis-Öl besteht je zur Hälfte aus dem berauschenden Tetrahydrocannabinol (THC) und dem frei erhältlichen Cannabidiol (CBD). Es sei kein Wundermittel, relativiert Heimleiter Urs Schwarz in einem Interview mit der «Berner Zeitung»,  «aber jene Bewohnende, bei denen es wirkt, gewinnen massiv an Lebensqualität.»
Konkret: Patienten mit Demenz irren nachts nicht mehr im Haus herum oder läuten ständig, sondern können ruhig schlafen. Nervöse und aggressive Bewohner sind entspannter und ruhiger geworden. Einige, die sich zuvor weigerten Nahrung zu sich zu nehmen, begannen wieder zu essen.

Plötzlich Lust aufs Konfibrot

Im Interview schildert Schwarz ein spezielles Ereignis: Eine Person habe wieder zu sprechen begonnen. Eines Tages fragte sie plötzlich, warum sie immer Birchermüesli essen müsse, obwohl sie auch einmal gerne ein Konfibrot hätte.
Das Cannabis, das den Patienten verabreicht wird, hat keine berauschende Wirkung, sofern es richtig dosiert ist. In der korrekten Menge kann es Unruhe und Schlafstörungen reduzieren. Helfen soll es auch bei depressiven Verstimmungen, Spastiken, Verspannungen und chronischen Schmerzen.

Die missbrauchten Schizophrenie-Medikamente

Bei manchen Bewohnern kann das Alterszentrum die starken Psychopharmaka, die ihnen ärztlich verschrieben worden sind, reduzieren oder sogar ganz absetzen. Wie in den meisten anderen Altersheimen werden auch in Ins hauptsächlich so genannte Neuroleptika verabreicht.
Sie werden bei Betagten als Beruhigungsmittel verwendet, etwa bei Unruhe, Ängsten oder Erregungszuständen. Eigentlich wären sie aber zur Behandlung von Wahnvorstellungen und Halluzinationen gedacht, wie sie etwa im Rahmen einer Schizophrenie oder Manie auftreten können.

Geht in Ins bald das Geld für Cannabis aus?

Werden alte Menschen mit Neuroleptika ruhiggestellt, werden sie apathisch. Im Alterszentrum Ins hat man festgestellt, dass sich die Betroffenen nach dem Wechsel auf Cannabis wieder mehr bewegen. Das sei zwar fürs Personal ein Mehraufwand, aber ein willkommener, sagt Schwarz.
Schwarz fürchtet, dass dem Heim bald das Geld für das Cannabis ausgehen könnte. Die meisten Krankenkassen übernehmen die Kosten für medizinisches Cannabis nicht – «wohl aber für Neuroleptika bei Menschen mit Demenz», wie Schwarz anmerkt. Eingesprungen ist bisher eine Stiftung.

Hausarzt und Angehörige müssen einwilligen

Seit Anfang Jahr braucht das Alterszentrum keine Sonderbewilligung mehr des Bundesamts für Gesundheit (BAG) für die Cannabis-Anwendungen, wohl aber eine Einverständniserklärung der Bewohner oder ihrer Vertreter. Das ist fürs Alterszentrum ein Knackpunkt: Es gäbe im Heim offenbar mehr Bewohner, denen Cannabis helfen würde, die aber keines nehmen dürfen. Einerseits sind nicht alle Hausärzte, andererseits auch nicht alle Angehörigen damit einverstanden.

Artikel teilen

Loading

Comment

2 x pro Woche
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

oder

Mehr zum Thema

image

Pflegeinitiative: Ausbildungsbeiträge ja – aber…

In St. Gallen sollen die Pflegefachleute unter Umständen ihre Unterstützungsgelder wieder zurückzahlen. Und in der Zentralschweiz prüfen die Kantone eine Ausbildungspflicht für Notfall- und Intensivpflege.

image

Pflegepersonal: Protest gegen Rekrutierung aus armen Ländern

Mehrere Organisationen lancieren einen Aufruf: Die Schweiz verletze immer noch den WHO-Kodex für die Anwerbung von Gesundheitsfachleuten, so die Kritik.

image

Kantonsspital St.Gallen sucht neues GL-Mitglied

Barbara Giger-Hauser tritt per sofort als Leiterin des Departements Pflege und therapeutische Dienste zurück.

image

BFS-Statistik: Private Spitex-Anbieter boomen

Die Pflegeleistungen der 'Privaten' kosten 37 Prozent weniger als bei öffentlichen Anbietern. Allerdings verrechnen sie 2,5-mal mehr Pflegestunden.

image

Pflege: So gross wird die Ausbildungs-Lücke im Kanton Zürich

In den nächsten fünf Jahren dürfte mehr als ein Fünftel des Bedarfs an gut ausgebildeten Pflegefachleuten nicht abgedeckt sein – sagt eine Obsan-Studie.

image

Nur noch Festangestellte? Super-Sache!

In Deutschland verzichtete eine Klinikgruppe vollständig auf Personalleasing. Jetzt zog man Bilanz.

Vom gleichen Autor

image

SVAR: Neu kann der Rettungsdienst innert zwei Minuten ausrücken

Vom neuen Standort in Hundwil ist das Appenzeller Rettungsteam fünf Prozent schneller vor Ort als früher von Herisau.

image

Kantonsspital Glarus ermuntert Patienten zu 900 Schritten

Von der Physiotherapie «verschrieben»: In Glarus sollen Patienten mindestens 500 Meter pro Tag zurücklegen.

image

Notfall des See-Spitals war stark ausgelastet

Die Schliessung des Spitals in Kilchberg zeigt Wirkung: Nun hat das Spital in Horgen mehr Patienten, macht aber doch ein Defizit.